Den Amerikanern war nicht zu trauen, aber ich konnte mich noch nicht dazu durchringen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Unwiderstehlich zog mich die Aura ihres Überflusses an. Es waren noch keine drei Tage vergangen, da strolchte ich schon wieder auf dem Grazer Damm herum. Wolken bedeckten den Himmel, ein kühler Wind wehte. Kinder ließen sich nur vereinzelt sehen. Die Fenster an diesem Vormittag geschlossen. Über Nacht schienen die Deutschen das Interesse an den Amerikanern verloren zu haben. Udo und ich passierten den Durchgang zum Hof eines der Häuserkarees. Viel weiter aber kamen wir nicht, denn ein engmaschiger Stacheldrahtzaun hinderte uns am Weitergehen. Hinter dem Stacheldraht hantierte ein Koch an einer Feuerstelle mit einer mächtigen Pfanne. Mit einer Kelle schöpfte er Teig aus einem Kessel in das Küchengerät und briet Eierkuchen. Es roch wunderbar und die Eierkuchen, fingerdick aufgegangen, ließen uns das Wasser im Mund zergehen. Udo und ich suchten uns am Stacheldrahtzaun den Platz, der dem Koch am nächsten war und hockten uns nebeneinander vor dem Stacheldraht nieder. Wir warteten.
Um den Koch herum saß eine Handvoll Amerikaner auf Stühlen und Hockern. Einer lag in einem Liegestuhl. Unbeschwertes Leben mit dem Charme eines Campingplatzes. Ein großes olivfarbenes Zelt mit Vorräten auf einer Häuserseite wurde von einem mächtigen Stapel von Kanistern und Kisten flankiert, der die ganze Längsfront der gegenüberliegenden Häuserreihe einzunehmen schien. Vor dem Zelt war eine Feldküche aufgebaut. Die Amerikaner nahmen nacheinander die fertigen Eierkuchen in Empfang und ließen es sich schmecken. Ihre Unterhaltung schien sich zähflüssig voranzuschleppen. Nur hier und da eine kurze Bemerkung oder ein kehliges Lachen. Ab und zu warf einer der Soldaten uns einen gelangweilten Blick zu, um sich aber sogleich wieder dem Essen zuzuwenden.
Wir warteten weiter, zu gerne hätten wir einen kleinen Bissen von einem der Eierkuchen gehabt. Wir konnten kein Wort Englisch, aber auf Deutsch wollten wir nicht betteln. Stumm wünschten wir, einer der Amerikaner würde sich unser erbarmen. Nur unsere Augen schickten unentwegt unsere Wünsche zu ihnen. Wenn ich aber dem Blick eines der Soldaten begegnete, wusste ich genau, er würde mir nichts abgeben. Der Amerikaner schaute mich an und ich erblickte in seinen Augen, dass er meine Situation erfasst hatte. Er war wie ein offenes Buch, das er aber nicht sein wollte. Er wandte sich sogleich wieder ab. Noch im Abwenden erkannte ich, dass er sich nicht nur vor meinem Wunsch, sondern auch vor sich selbst verschloss.
Es wurde eine traurige Stunde vor dem Stacheldraht. Wie ein hungriger Vogel ersehnten wir, dass einer der Soldaten uns einen Happen zuwarf. Aber nichts passierte. Als wir schließlich aufgaben, fühlte ich mich leer und schuldig, weil ich Menschen belästigt und mich entwürdigt hatte. Wir schlichen nach Hause.
Die Amerikaner am Grazer Platz habe ich nie mehr aufgesucht. Das hatte ich auch nicht mehr nötig, denn die Soldaten schwärmten aus. Sie suchten ihre deutschen „Fräuleins“ zu Hause auf und unternahmen ausgedehnte Sightseeing Touren. Selbst in der Rembrandtstraße flanierten mit einem Mal amerikanische Soldaten. In ihren Ausgehuniformen gaben sie ein schmuckes, von Elend umrahmtes Bild ab.
Amerikaner 1945 in Friedenau zu sein, war sicher nicht ganz einfach, allein weil den Soldaten oft eine Schar Kinder und nicht selten einige erwachsene deutsche Männer folgten. Die Kinder bettelten, indem sie laut Coca-Cola und Chewinggum riefen, die Männer machten sich dagegen klein. Nur wenn die Amerikaner den Stummel einer ausgebrannten Zigarette weggeworfen hatten, waren sie sogleich zur Stelle, um den aus dem Rinnstein geholten Abfall weiterzurauchen oder ihn in einem Behälter zur späteren Verwendung aufzubewahren.
Unsere totale Inferiorität hatte mir schon damals schwer zu schaffen gemacht.
Wir waren nicht nur unterworfen, nicht nur zu Bettlern gemacht worden, sondern wir waren so zerstört, dass wir uns selbst unterwarfen und darin gefielen zu betteln. Wir prostituierten uns alle, Frauen wie Männer wie Kinder. Wir Kinder verschenkten unsere Würde für einen Kaugummi. Wir waren wie die Kakerlaken, wir fühlten wie sie. Wir schämten uns deswegen und sprachen später nie über diese Seite unserer Selbstschändung, aber wir machten verzweifelt weiter, selbst wenn uns die Amerikaner wegen unserer Unterwürfigkeit nur noch verachteten.
Es war wirklich zum Kotzen, aber einen Kaugummi hätte ich zu gerne auch einmal gehabt. Einen ausgespuckten Kaugummi aber aufzuheben und weiterzukauen, was ich bei anderen Kindern beobachtete, habe ich nie fertiggebracht. Ich habe es nicht einmal ernsthaft erwogen.
An einem heißen Augusttag, ich kam mit Udo vom Dürerplatz und bog in die Rembrandtstraße ein, kamen uns zwei junge amerikanische Soldaten entgegen. Wir liefen auf dem Trampelpfad zwischen den Schuttbergen, die in dem ehemaligen Vorgarten des Hauses Rembrandtstraße Nr. 14 herumlagen. Die Amerikaner befanden sich noch auf dem Bürgersteig der Rembrandtstraße. Würden sie weitergehen oder die Abzweigung zum Dürerplatz durch den Vorgarten wählen? Ich beschleunigte meine Schritte, ich wollte ihnen unbedingt begegnen. Ich hatte mich entschieden: „Du bittest sie um einen Kaugummi.“ Eine Gelegenheit, Amerikaner allein anzutreffen, durfte ich mir nicht entgehen lassen. Beide Amerikaner waren junge Burschen. Der eine groß, breit in den Schultern, machte einen friedlichen, freundlichen Eindruck. Ihn wollte ich ansprechen. Der andere ihm gegenüber klein, ein Typ wie Montgomery Clift im Film „Verdammt in alle Ewigkeit“, aber mit einem diesem gegenüber geradezu konträren Gesicht, scharfe Nase, verkniffene Augen, verächtlicher Mund, gefiel mir nicht. – Frettchen, Rattengesicht!
Beide Soldaten schritten betont sportlich voran, der eine weit ausholend, eher etwas bedächtig, der andere tänzelte mit kurzen Schritten neben ihm her. Als sie die Abzweigung zum Dürerplatz erreichten, hüpfte der Kleine mit einem eleganten Sprung auf die niedrige Vorgartenmauer, setzte sich vor den großen Soldaten und kam mir jetzt als erster entgegen. Er war nicht der richtige, den ich um etwas bitten wollte, aber es ging nicht mehr anders. Ich fasste mir ein Herz, blickte dem Kleinen direkt ins Gesicht und rief eines der drei mir bekannten englischen Wörter: „Chewinggum, Chewinggum.“ Der Soldat verzog für einen Augenblick das Gesicht, blitzte mich verächtlich an, dann schob er den Kaugummi, den er die ganze Zeit gekaut hatte, vor die Zähne, der Mund verzerrte sich und ehe ich zu mir kommen konnte, spie er den Kaugummi direkt vor meine Füße. Dabei zischte er laut und lang gezogen: „Go off damned fuckin´ boy.“ Der verbale Peitschenschlag traf mich voll. Ich zuckte zurück und sprang zur Seite. Ein gebranntes Kind. Ich verstand kein Wort – die in den Worten liegende Beleidigung aber saß. Es war der erste englische Satz, den ich hörte, er wurde in mich, zusammengefasst zu einem einzelnen Wort, regelrecht eingestanzt. Sechs Jahre später wusste ich um die Bedeutung dieses Satzes.
Geprügelt wie ein Hund kam ich nach Hause, ich verzog mich, tat so, als wäre gar nichts geschehen. Erst 20 Jahre später habe ich das erste Mal mit einem anderen Menschen über dieses Erlebnis gesprochen.
Von Stund an wollte ich mit den Amerikanern nichts mehr zu tun haben. Ich hielt sie für schlimmer als die Russen, die uns unterwarfen, aber nicht verachteten. Der junge amerikanische Soldat mit dem Kaugummi war in meinen Augen ein „Rattengesicht, ein dummes, hochmütiges Arschloch.“ Arschlöcher gab es nun viele, selbst in der Familie, der Nachbarschaft, in Friedenau. Das war nichts Besonderes. Mit ihnen ließ es sich leben. Sie waren es, die meine Mutter mich lehrte zu tolerieren. Aber der Amerikaner hatte vor mir nicht als Privatperson, sondern als Soldat, als Vertreter eines Staates ausgespuckt – Amerika hatte gespuckt. Das gab mir zu denken.
Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich meinen Bruder Achim im Streit in Tuchel angespuckt und dafür eine Tracht Prügel bezogen hatte. Ich war zur Rechenschaft gezogen worden. Ich hatte erkannt, jemanden anzuspucken oder vor ihm auszuspucken, war Unrecht. Wer würde Amerika zur Rechenschaft ziehen?
Aber es gab da noch eine verwirrende andere Seite der Geschichte. Mir war schweres Unrecht zugefügt worden, das stand damals und in den nächsten Jahrzehnten fest, aber hatte ich die Verachtung, die im Tun des Amerikaners sich manifestierte, nicht auch verdient? Wer sich so erniedrigte wie ich, so hergab wie die Friedenauer, die Berliner, die Deutschen, wer seine Selbstachtung, um Achtung zu erlangen, aufgab, erhielt in der Verachtung durch andere eigentlich nur das, was er sich selbst antat. So betrachtet hatte mir Rattengesicht die Augen für mein eigenes Tun geöffnet.
Ich habe nie mehr einen Amerikaner, nie mehr einen anderen Menschen angebettelt. Selbst Hilfe von anderen anzunehmen, ist mir während meines ganzen Lebens schwer gefallen. Das Bild, das ich mir von Amerika innerhalb von 14 Tagen der Begegnung mit Amerikanern eingeprägt hatte, konnte ich nur allmählich korrigieren.
Erst zwei Jahre später, im Sommer 1947, begegnete ich das nächste Mal wieder persönlich einem Amerikaner. In unserer Nachbarschaft, Rembrandtstraße 19, Parterre, wohnte eine junge Frau mit ihren Eltern, mit der ich häufig einige freundliche Worte wechselte, zuweilen aber auch längere Zeit schwatze. Sie war mit einem schwarzen amerikanischen Soldaten befreundet, der nicht selten mit seinem chromblitzenden Straßenkreuzer in unserer Straße auftauchte, um seine Freundin zu besuchen oder sie abzuholen. Das Auto war bei den Kindern der Rembrandtstraße eine immer bestaunte Attraktion, hatte doch keiner in der Gegend damals ein Auto. Aus einem mir unbekannten Grund hatte der Soldat eines Tages sein Auto unmittelbar vor unserem Haus geparkt und war zu seiner Freundin gegangen. Ich lief um den Wagen herum, betastete die eingebauten Scheinwerfer, die verchromten Stoßstangen, drückte meine Nase am Seitenfenster des Autos platt, als der Schwarze mit seiner Freundin auftauchte, die Wagentür öffnete und mir anbot, das Auto auch von innen zu inspizieren. Für einen Augenblick war ich unschlüssig. Ich schaute den Amerikaner an, ich schaute seine Freundin an und erblickte nichts anderes bei ihnen als den Wunsch, mir eine kleine Freude zu machen. Ich konnte nicht ablehnen. Ich kletterte in den Wagen und nahm das erste Mal in meinem Leben auf dem weichen Polster eines Pkws Platz, ein unvergesslicher Augenblick.
Amerikas Ehre war gerettet – wenigstens in meinen Augen.
Einige Tage nach dem Ereignis verunglückte die junge Frau. Die Eltern starben einige Monate später im Abstand von 14 Tagen. Den Amerikaner habe ich nie wieder gesehen.
Unsere Ehre, Friedenaus Ehre, wurde nicht gerettet. Vielleicht haben wir uns zu sehr geschämt. Vielleicht konnten wir nicht anders. Die Seite der Prostitution an unserem Verhalten den Amerikanern gegenüber ging, wenn auch nicht so offensichtlich, weiter. Sie wuchs sich zu einer intellektuellen Prostitution aus. Dabei wurde sie gleichzeitig rationalisiert, verleugnet, sogar gefeiert.
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