Die Kehrseite der Medaille
Kinesis (Bewegung)
Hüsby - Ein Dorf erinnert sich
Sinn redet Unsinn
Die sieben Kreuze
Apokalypse
Nomen ipsum
Ruiniert
Der Anfang
Das Werden

 
 


Ein geschlossenes Leben (2. Teil)

Serie

mit Texten von Konrad Gutschke



Der Dorf-Gedenkstein 




Das Zentrum um den Dorfteich war vor Jahren keineswegs so schön anzusehen wie heute, dafür aber mit Leben erfüllt. Jetzt sieht der Dorfteich nach seiner Verschönerung picobello aus. Artig. Früher manchmal, oje, ich mag gar nicht darüber reden. Aber geschadet hat es uns nicht.

Bis vor Kurzem konnte sich der Bäcker am Dorfteich halten. Er war der letzte Stützpunkt des dörflichen Geschäftslebens. Bis zuletzt trafen sich dort immer noch Leute aus dem Dorf. Auch ich war fast jeden Tag in seinem Laden. Wie oft habe ich zum Geburtstag oder anderen Feiern bei ihm etwas backen lassen. Der Bäcker hat alles getan, was er konnte. Er hat investiert, den Laden modernisiert und verschönert. Er ist mit seinem Wagen übers Land gefahren, um dort seine Backwaren zu verkaufen. Aber wie das so auf dem Dorf geht, seitdem es Autos gibt, fahren alle zum Einkaufen nach Schleswig. Dort ist das Angebot viel größer, man kann sich seine Sachen aussuchen und kann vergleichen. Man braucht nicht immer das Gleiche zu kaufen. Es ergibt sich dann wie von selbst, wenn man schon einkauft, wird noch nebenbei ein Brot mitgenommen. So ist das. Unser Bäcker hier, der konnte machen, was er wollte. Selbst wenn er was Neues herstellte, er blieb darauf sitzen, weil keine Nachfrage bestand. Vor den Autos haben die Leute alles im Dorf erledigt. Sie sind gar nicht in die Stadt gekommen. Nein. Damals waren die Menschen abhängig von den Geschäftsleuten. Mit der Beweglichkeit der Hüsbyer verwandelte sich die Abhängigkeit. Da wurden die Geschäftsleute abhängig von den Kunden.

Auch noch nach dem Krieg haben viele Leute so wie wir selbst gebacken. Wir waren nicht unbedingt auf den Bäcker angewiesen. Wir hatten ein eigenes Backhaus. Einmal im Monat wurde gebacken. Die Brote wurden dann im Keller auf einem Bord gelagert. Sie hielten sich wochenlang. Wenn wir sie essen wollten, wurde der Schimmel nass abgebürstet und das Brot kurz aufgebacken, gestorben sind wir nicht. Wir waren jedenfalls unabhängig.

Aber den Bäcker haben wir auch oft in Anspruch genommen. Zum Beispiel fällt mir gerade der Rosenmontag ein. An diesem Tag morgens schon ganz früh wurde uns vom Bäcker ein ganzer Korb mit heißen Wecken geschickt und wir durften uns zum Morgenkaffee die leckeren Backwaren schmecken lassen. Das war ein besonderes Ereignis. Die Kinder des Bäckers waren noch vor der Schule mit den heißen Wecken losgeschickt worden. Sie hatten das ganze Dorf, das darauf wartete, zu beliefern. Das war so üblich. Diese Sitte gibt es jetzt schon lange nicht mehr. Außerdem als die Kinder des Bäckers größer wurden und schließlich aus dem Haus gingen, stand keiner mehr zur Verfügung, der die heißen Wecken hätte austragen können. Allein konnte der Bäcker ja nicht gehen. Aber damals, als die Sitte noch bestand, ging immer was weg. Das will ich wohl sagen. Allein wir verputzten im Nu 20 und mehr Stück.

Natürlich kamen die Hüsbyer nicht nur in der Dorfmitte zusammen. Die zwei anderen Geschäfte zum Beispiel lagen am Ortsausgang und das eine Geschäft sogar in Kroy. Die Menschen begegneten sich auch hier und dann noch zum Beispiel in der Gastwirtschaft, wo es früher auch ein Geschäft gab.

Auch die Mühle darf ich nicht vergessen. Sie war schon deswegen ein Mittelpunkt des Dorfes, weil die Bauern dort ihr Korn hinbrachten. Die Mühle war wohl überhaupt der wichtigste Handelsplatz des Dorfes. Wahrscheinlich wurde hier am meisten umgesetzt. Die Leute kamen nicht nur aus dem Dorf hierher, sondern aus Danewerk und Ellingstedt, und nach dem Krieg erst, als die Menschen nach Mehl, Buchweizenmehl nur so gierten, wurde die Mühle auch von den Leuten aus Schleswig belagert. Sie litten die größte Not. Für den Müller allerdings war das gar nicht schlecht, denn zunächst einmal machte er die besten Geschäfte, bis dann, als es allen wieder besser ging, seine Geschäfte zurückgingen.

Eigentlich gab es früher im Ort alles zu kaufen, was wir brauchten. Und was uns fehlte, jedenfalls von den alltäglichen Dingen, wurde uns gebracht. Zum Beispiel ging der Geschäftsinhaber aus Kroy oft durch das Dorf und versuchte seine Waren persönlich an den Mann zu bringen. Auf seinem Weg kam er auch immer bei uns vorbei. Jedes Mal fragte er das gleiche: „Dora, schlechte Wetter hüt?" Es konnte die Sonne scheinen, er fragte: „Schlechte Wetter hüt?“ Danach folgte eine zweite Frage. Die war auch immer gleich: „Wat soll´s denn hüt sin, Dora?“ Wenn er dann etwas nicht bei sich trug oder überhaupt nicht in seinem Laden führte, besorgte er es uns und brachte es uns persönlich vorbei.

Wenn es um andere alltägliche Sachen ging, zogen fliegende Händler herum, wie zum Beispiel Scherenschleifer oder Bürstenmacher, die uns ihre Dienste anboten. Regelmäßig besuchte uns auch lange Zeit eine Frau aus Schleswig. Das war richtig so ein Weib. Allein wie sie angezogen war, immer mit einem Tuch auf dem Kopf und dazu laut und dreist. Unter dem Arm trug sie einen Korb und darin kleine Bürsten, Zwirn und Garn, so kleine Artikel, die immer gebraucht wurden. Es hieß, die Frau hätte viel Geld und es nicht nötig, mit ihrem Kleinkram herumzuziehen. Dennoch war sie ständig unterwegs und drängte uns ihre Waren auf. Wenn sie ihre Waren anpries, rit se ihr Mul up: „Wüst wat hem von min Schiet?“ Die gab auch nicht so schnell auf. Wir waren immer froh, wenn sie weg war.

Damals hatten wir eigentlich alles zum Leben, wir brauchten nicht mehr. Heute können wir alles gebrauchen und noch mehr. Wir haben wirklich alles. Die Schränke sind voll, Mann oh Mann, aber zum Leben reicht es vielen immer noch nicht.

Es ist schon merkwürdig, alles, was uns jahrzehntelang ins Zentrum des Ortes führte, gibt es jetzt nicht mehr. Nur einmal im Jahr noch kommen wir alle hinter dem Dorfteich am Gedenkstein für unsere Toten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zusammen. Dort trauern wir und verbinden uns mit unseren Nächsten, die schon lange, lange nicht mehr leben.

In die kleinen Steine zu beiden Seiten des Weges, der zum großen Gedenkstein führt, sind die Namen aller unserer Gefallenen und Vermissten eingemeißelt. Dazu gehören auch die Namen der Toten aller Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, die in unserem Dorf nach dem Krieg Zuflucht gefunden haben.

Ich glaube, vor der Feier reinigt immer jemand aus dem Dorf, der die Anlage auch sonst bepflanzt, den Gedenkstein. Jedes Jahr im Herbst zum Heldengedenktag, man nennt es ja jetzt Volkstrauertag, versammeln wir uns hier. Es werden Ansprachen gehalten. Manchmal spricht die Pastorin, danach redet unser Bürgermeister einige Worte und ein paar andere Leute. Zum Schluss wird ein Kranz niedergelegt. Meistens singen wir auch einzelne Lieder. Wir erhalten dazu Textblätter und stimmen dann: Großer Gott wir loben dich an oder einen entsprechenden Choral. Die Musikkapelle spielt mitunter auch: ich hatt einen Kameraden. Zu der Trauer und Gedenkfeier kommen immer noch viele Leute. Meistens natürlich diejenigen, die dort eines Angehörigen gedenken. Es kommen auch Jüngere. Aber von den Zugezogenen habe ich dort noch nie einen gesehen.

Für mich ist dieser Gedenktag immer noch der Heldengedenktag, ich kann gar nicht anders, das sind doch unsere, meine Helden. Wenn ich am Gedenkstein nur die Namen lese, ich habe sie ja alle gekannt, ist mir immer ganz weh zu Mute. Zwei oder drei Söhne aus einer Familie gefallen! Bei meiner goldenen Konfirmation traf ich nur einen einzigen von den Jungen von damals. Alle anderen sind gefallen.

Wenn ich bei der Feier mit den anderen aus dem Dorf dort versammelt bin und wenn ich die Namen dort alle lese, bin ich den Toten in Gedanken wieder ganz nahe. Dann kann ich mich auch nicht davor verschließen zu sehen, wer uns alles bereits aus dem Gedächtnis entschwunden ist. Denn nur dort, wo es noch Angehörige gibt, liegt meistens ein Kranz oder ein kleiner Strauß. Bei vielen aber nix.




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