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Als ich Kind war, arbeiteten fast alle Hüsbyer hier im Dorf. Nach Schleswig fuhr keiner. Öffentliche Verkehrsmittel gab es nicht, alles musste zu Fuß zurückgelegt werden. Für die wenigen Kinder, die in Schleswig aufs Gymnasium gingen, gab es da nichts zum Lachen.
Solange ich zurückdenken kann, drehte sich hier im Dorf alles um die Landwirtschaft. Die Bauern und ihre Arbeit gaben den Ton an, alle anderen im Dorf waren der Landarbeit auf irgendeine Weise zugeordnet. Die meisten Dorfbewohner arbeiteten ohnehin direkt in der Landwirtschaft als Landarbeiter, als Knechte genauso wie das andere Gesinde oder die Mädchen, die im Haus ihre Anstellung fanden. Bei der Ernte halfen sowieso alle.
Selbst die Geschäftsleute standen der Landarbeit nicht fern. Die meisten von ihnen hatten ein kleines Stück Land, auf dem sie selbst ihr Gemüse anbauten, oder sie ließen eine oder zwei Kühe auf ihrem Grundstück weiden. Damals gab es hier im Dorf noch viele ungelernte Arbeiter, kleine Leute, wie sie damals genannt wurden. Die meisten von ihnen schlugen sich als Tagelöhner durchs Leben. Aber sie wohnten größtenteils in eigenen Häusern, winzigen Katen mit mehreren klitzekleinen Räumen für fünf oder sechs Personen. Viele von ihnen züchteten ein Schwein, das leicht mit Abfällen gefüttert werden konnte. Einige besaßen auch eine Ziege oder sogar eine Kuh. Da sie selbst kein Land hatten, pflockten die Eigentümer ihre Ziege einfach am Straßenrand an, wo sie auf öffentlichem Land ihre kärgliche Nahrung fand. Manche dieser Ziegen habe ich in gar nicht guter Erinnerung, weil ich aufpassen musste, von ihnen nicht geboxt zu werden.
Reich war unser Dorf wirklich nicht. Aber alle waren sparsam und wollten es zu etwas bringen. Das Geld wurde nicht mit vollen Händen ausgegeben.
Auch die Handwerker, die es damals reichlich gab, arbeiteten fast nur für das Dorf und seine Belange. Sie arbeiteten für das Dorf und erhielten vom Dorf dann so viel wieder zurück, dass sie existieren konnten. Sie waren selbstständige Handwerker, aber die meisten von ihnen hatten keine Angestellten. Wenn sie krank wurden, stand es schlecht um sie. Die anderen Handwerker, die in den Nachbardörfern als Angestellte arbeiteten wie unser Tischler, wohnten aber nicht nur hier im Dorf. Wenn sie nämlich gebraucht wurden, waren auch sie zur Stelle.
Was wir vor dem Krieg brauchten, hatten wir fast alles hier: zwei Schlachter, einen Schmied, einen Stellmacher, einen Reetdachdecker, einen Schuster, einen Holzschuhmacher, einen Weber, drei Schneiderinnen, einen Herrenschneider. Wenn es etwas nicht gab, klagte aber keiner und es wurde auch nicht rumgepütschert. Zum Beispiel hatten wir keinen Friseur. Die Leute schnitten sich gegenseitig die Haare. Meinen Schwestern machte es sogar Spaß, wenn sie an meiner Frisur ihre Fantasie spielen lassen konnten. Später gingen die Leute nach Schuby und manche sogar nach Schleswig.
Die Handwerker gehörten zum Dorf und zu seinem Leben. Heute gibt es das gar nicht mehr. Ihre Werkstätten lagen nicht nur mitten im Dorf, sondern sie waren auch für alle zugänglich. Das war das schönste, das tägliche Treffen, wenn wir es wollten. Zum Beispiel beim Holzschuhmacher oder beim Weber, dort konnten wir bei der Arbeit zuschauen. Wie oft weilte ich mit meiner Freundin Trude in ihrer Werkstatt. Beim Holzschuhmacher hingen die fertigen Schuhe oben in einer Reihe aufgereiht, wo wir sie bewundern konnten. Die Hacken der Schuhe waren meist hübsch mit Mustern und Blumen bemalt. Es waren die, welche von den Frauen sonntags getragen wurden, welche wir auch einmal zu tragen hofften. Die Werkstätten waren klein und wenn man bedenkt, dass der Holzschuhmacher und der Weber auch noch in der Werkstatt wohnten, dann gewinnt man eine ungefähre Vorstellung davon, wie wir damals hier lebten.
Ein anders Beispiel ist oben die Schmiede. Dort war es auch immer hochinteressant. Solange es Pferde in der Landwirtschaft gab, war dort oben immer etwas los. Wenn die schweren Pferde des Müllers beschlagen werden sollten, versammelten sich in der Schmiede die Männer der Nachbarschaft zum Festhalten. Trat nämlich ein Pferd zu, oh weh, das ging nicht immer ohne Wunden ab. Auch meinen Vater hatte es einmal dabei erwischt.
In der Schmiede haben wir oft gestanden und zugeschaut. Vater als Stellmacher fertigte die Räder der Fuhrwerke und dann musste in der Schmiede um die Räder ein Eisenreifen gelegt werden. Die Räder wurden von uns aus immer hoch in die Schmiede gekullert. Dort kamen sie auf einen Amboss und die Funken des Schmiedefeuers stoben. Dann ging es los. Ich höre es noch heute: Ping peng, Ping peng. Es war immer so ein Doppelklang. Oh Gott, wir Kinder staunten nur. - Wie lange gab es den Schmied noch? Noch viele Jahre nach dem Krieg.
Ich habe es ja schon erwähnt, im Dorf gab es einen Stellmacher, meinen Vater. Er war ein fröhlicher Mensch, ich glaube, das habe ich von ihm. Er war beliebt und redegewandt. So kam es oft vor, dass nicht nur Leute aus dem Dorf, sondern auch welche aus den umliegenden Dörfern, die in Hüsby etwas zu tun hatten, bei ihm Station machten. Jedenfalls ging es in seiner Werkstatt immer fröhlich zu. Vor unserem Haus hing damals ein Briefkasten, der täglich geleert werden musste. Aber wie das so war, bevor der Postbote daran dachte, den Briefkasten zu leeren, zog es ihn jeden Tag zuerst unwiderstehlich in die Werkstatt meines Vaters und dort wurde erst einmal das Neuste beschnackt.
Mein Vater war Stellmacher, aber er war auch Bauer und als Bauer gehörte ihm auch ein Stück Wald. Das versetzte ihn in die glückliche Lage, selbst über die Materialien seines Handwerks zu verfügen. Wenn Bäume abgesägt wurden, begutachtete mein Vater sie und waren sie für die Stellmacherei brauchbar, wurden sie auf einen Langwagen gelegt und von meinem Vater nach Stolk zu seinem Bruder transportiert. Der hatte eine große geeignete Maschine, um die Bäume zu zersägen. Es war damals eine ganze Tagestour. Spät abends kam er dann erst wieder, das weiß ich noch genau. Immer stand dann meine Mutter am Baum vor unserem Haus und wartete voller Sorge. Kommt er noch nicht? Kommt er noch nicht?
Ähnlich war es, wenn für ein Dach Reet aus der Marsch geholt werden musste. Auch eine Tagestour, die nicht ganz ungefährlich war, weil der Wagen immer hoch beladen wurde und das Reet leicht ins Rutschen geriet. Mein älterer Bruder war immer mit von Partie. Dann standen wir hier alle abends und warteten voller Sorge auf die Rückkehr. Welche Touren unternehmen die Hüsbyer heute nicht alles und keiner wartet unruhig auf ihre Rückkehr. Für uns war es aber damals so, als würden die Fuhrwerke mit den Männern von einer Weltreise zurückkehren.
Früher hatten wir im Ort mehrere Schneiderinnen. Die eine war eher eine Art Flickschneiderin, die immerzu in die Häuser ging, um dort kleinere Näharbeiten zu erledigen. Zur gleichen Zeit gab es noch eine andere Schneiderin, die in unserem Hause lebte, dort wo ich jetzt wohne. Sie hatte es mit ihrem Mann, der Tagelöhner war, gemietet. Sie bezahlten damals 90 oder 95 Mark für das Haus und das für das ganze Jahr. Dabei hatten sie außerdem noch den Garten, in dem sie Kartoffeln anbauten, einen kleinen Stall, in dem sie ein Schwein fütterten und darüber einen Verschlag für ihre Hühner. Sie waren keine reichen Leute, aber auch sie wollten ihr Eigentum haben. Leider hatten sie kein Geld. Sie wussten sich aber zu helfen. Meine älteste Schwester war in jenen Jahren immer irgendwo in Stellung. Ihren Lohn hatte sie die ganze Zeit beharrlich gespart und auf ein Konto eingezahlt. Sie kam mit ein wenig Taschengeld aus, das sie von meinem Vater erhielt. Auf diese Weise war nun eine schöne Summe zu Stande gekommen, die sich die Schneiderin und ihr Mann liehen. Sie kauften sich mit dem Geld am Ausgang des Dorfes eine kleine Kate. So hatten auch sie schließlich ihr eigenes Haus. Das geliehene Geld zahlten sie natürlich zurück, in ganz kleinen Raten.
Meine Arbeit als selbstständige Handwerkerin begann erst nach dem Krieg. Während des Krieges hatte ich in Flensburg meine Prüfung zur Schneidermeisterin abgelegt. Noch immer hängt mein Meisterbrief in meiner Stube, noch immer, wenn auch nur gelegentlich, arbeite ich für das Dorf.
Wie viele der anderen Handwerker verrichtete ich meine Arbeit zu Hause. Ich nähte für das Dorf und die Dörfer der Umgebung. Ich nähte erfolgreich gegen die Kleidung von der Stange an. Unzählige Brautkleider, Kleiderfolgen für die Tanzgruppen des Dorfes bis in die Gegenwart habe ich mit Nadel und Faden geschaffen. Die Menschen haben es mir immer gedankt. Alle Handwerker des Dorfes sind während meiner Berufstätigkeit gegangen. Es war ein ganz langsames Berufssterben. Allein ich bin als letzte geblieben.
Vor dem Krieg hatte das Dorf alles; es war sich selbst genug. Ich nenne es ein geschlossenes Leben. Durch den Krieg allein wurde die Geschlossenheit des Dorfs aufgebrochen. Die jungen Männer kämpften in ganz Europa, mein jüngster Bruder sogar in Afrika. In Amerika arbeitete er als Kriegsgefangener auf einer Farm. Die Leute dort wollten ihn überhaupt nicht mehr gehen lassen. Er verstand etwas von der Landarbeit. Zum Ende des Krieges kamen die vielen Flüchtlinge, die bei uns im Dorf keine Arbeit mehr fanden. Sie wohnten sich hier ein, aber ihr Auskommen mussten sie in Schleswig und der weiteren Umgebung finden.
Vor dem Krieg kam hier kaum jemand raus. Südlich des Kanals begann für uns eine andere Welt. Hamburg lag eine Woche entfernt (weil es dort eine Woche früher blühte).
Heute kennen sich die Hüsbyer in der ganzen Welt aus. Sie sind wahre Weltbürger. Mancher ist in Hüsby ebenso wie in Australien zu Hause. Kein Ziel in der Welt ist den Hüsbyern zu weit. Selbst ich bin schon mal mit dem Flugzeug geflogen und habe meinen Zeh in das mittelländische Meer gesteckt. Mein Großneffe aber übertraf alle. Er wollte es ganz exotisch haben und reiste in den Urwald Paraguays zu den Indios, wo dann allerdings er zum Exoten wurde. Die Indios tasteten nach seiner Haut, nur um zu sehen, ob die Farbe echt sei.
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