Die Kehrseite der Medaille
Kinesis (Bewegung)
Hüsby - Ein Dorf erinnert sich
Sinn redet Unsinn
Die sieben Kreuze
Apokalypse
Nomen ipsum
Ruiniert
Der Anfang
Das Werden

 
 


Freizeitgestaltung und Mitmenschlichkeit

Serie

mit Texten von Konrad Gutschke



Früherer Jugendtreff unter Linden  


Behütetes Spiel?
Wenn ich heute zurückschaue, erscheint mir das Leben der Kinder vor dem Krieg schlicht und irgendwie einfältig gewesen zu sein. Neben der Schule hatten wir so gut wie nichts, was uns angeboten wurde. Und doch wussten wir uns immer zu beschäftigen. Wir gestalteten unsere Freizeit selbst.
Ich spielte im Haus, im Hof, in der Werkstatt meines Vaters und mit Vorliebe auf dem Heuboden ohne viel Spielzeug, aber mit umso mehr Fantasie. Wir spielten meist allein, ohne Aufsicht der Erwachsenen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, meine Mutter hätte mit uns nicht spielen können. Sie hatte den ganzen Tag ihre Arbeit auf dem Hof und im Haus. Wir spielten das, was wir wollten, da redete uns keiner rein. Wenn wir es uns vornahmen, konnten wir auch ungehindert ins Dorf gehen. Angst, überfahren zu werden, kannten wir nicht. Wir trafen überall Kinder, mit denen wir spielen konnten. Und wir wurden überall herzlich empfangen. Wenn ich mit einem meiner Kinderfreunde zusammen war, konnte es sogar einmal sein, dass uns seine Mutter eine Brause spendierte. Das war wie Kinderfest.

Aber wir stellten auch allerlei Unfug an, und manchmal gab es deswegen richtig Ärger. Z. B. spielten wir einmal bei einem meiner Freunde oben auf dem Boden des Hauses, wo auch einige Stuben ausgebaut waren. Wir waren so richtig in unser Spiel vertieft, als mein Freund auf die Toilette musste. Aber anstatt die Stufen hinunterzusteigen und über den Hof zu den Plumpsklos zu laufen, scheute er den Weg. Er stellte sich in eine Fensteröffnung und erleichterte sich unerschrocken hinaus. Aber wie das Schicksal es so wollte, ging in diesem Augenblick gerade unten sein Bruder vorbei. Oje, gab das einen Ärger!

Ein andermal spielte ich mit meinem Freund Ernst auf dem Heuboden. Dort verlief oben unter dem Dach ein Balken von der einen zur anderen Seite der Einfahrt, vielleicht 4 m hoch, damit die großen mit Heu beladenen Wagen darunter abgestellt werden konnten. Der Balken reizte uns, wir hatten fleißig Balancieren geübt und dabei schon einige Fertigkeit erlangt, als wir von meinem älteren Bruder dabei ertappt wurden. – So war das mit unserem Spiel ohne viel Aufsicht. Ganz ungefährlich war es nicht und zuweilen gab es richtig Krach.

Bei den JM
Anders wurde es in der Nazizeit. Das erste Mal wurde neben der Schule unser spontanes Kinderleben reguliert. Für die Mädchen gab es die JM (Jungmädel) und den BDM (Bund Deutscher Mädel). Wir Kinder waren begeistert, wir merkten nicht, dass wir reglementiert wurden. Ich durfte erst spät den Jungmädeln beitreten, sodass ich nur kurze Zeit dabei war, bevor ich zum BDM kam. Ich fand es schön da. Von politischer Steuerung habe ich nicht viel wahrgenommen. Wir machten meiner Meinung nach auch nichts Politisches. Ich bekam eine schicke Uniform. Dann trafen wir uns regelmäßig zu gemeinsamen Spielen und nützlichen Unternehmungen. Wir hielten Picknick im Wald, spielten Gruppenspiele, sammelten für die Tiere im Wald Eicheln, sangen oft Volkslieder und zogen manchmal gemeinsam singend durch das Dorf.

Mit den JM wanderten wir auch zu der Jugendherberge in den Hüttener Bergen. Manch einer blieb unterwegs mit Blasen an den Füßen im Graben liegen. War das eine Anstrengung! Aber wir waren stolz, als wir alle zu guter Letzt den Weg geschafft hatten. Eine Nacht blieben wir in der Jugendherberge, bevor es mit dem Zug zurück ging. Das erste Mal von zu Hause weg. So weit weg. Abends in der Jugendherberge ritzte ich dann zum Zeichen meiner Wanderleistung meinen Namen nebst Datum in eine der Fensterluken ein. - Nach nunmehr 80 Jahren dürfte mein Name schon längst verwischt sein.

Jugendtreff vor dem Haus

Auch für die Jugendlichen wurde damals während meiner Kindheit wenig geboten. Aber eintönig war auch ihr Leben nicht. Die meisten von ihnen arbeiteten bereits gleich, nachdem sie die Schule verlassen hatten. Nur ganz wenige machten in Schleswig noch eine Weiterbildung. Aber immer noch hatten sie Zeit genug, sich abends zu treffen und ihren Spaß zu haben. Sonntags war ohnehin der Tag, an dem sich viele von ihnen auf der Straße zusammenfanden. Ein Treffpunkt der Jugendlichen war vor unserem Haus unter den Linden. Dort saßen die Jugendlichen auf dem Wall und klönten, während mein Bruder und ich immer aus dem Fenster schauten, um zu sehen, was sie dort machten.

Obwohl sich die Treffen der Jugendlichen mit den Jahren stark veränderten, trafen sie sich selbst noch in den achtziger Jahren in Gruppen oder Cliquen und gestalteten von sich aus ihre Vergnügungen. Sie trafen sich beinahe täglich im Dorf und nicht selten ging es dann mit Fahrrad oder Moped zu einem Rockkonzert in ein Nachbardorf.

Einen besonderen Spaß hatten die Jugendlichen damals wie heute an der Musik. Aber während wir damals jeder Musik nachliefen, sind die Jugendlichen von heute von Musik umgeben. Als ich Kind war, kam manchmal einer mit einer Gitarre oder einer Quetschkommode durchs Dorf und wir Kinder liefen immer alle hinterher. Oder wenn ich mit meinen Schwestern in Pulverholz auf der Koppel zum Melken war und in Schleswig ein Gildefest stattfand, konnten wir von dort her die Musik herüberschallen hören. Mann, Mann, haben wir gehorcht. So etwas Schönes. Wir waren richtig hingerissen. Weil wir so selten Musik hörten, machten wir sie bei jeder Gelegenheit selbst. Wir sangen. Die Lieder, die ich in der Schule gelernt hatte, kannten wir alle, das heißt, auch meine Schwestern und wenn sich die Gelegenheit ergab, stimmten wir die Lieder an. Wir sangen dann immer zweistimmig. Heute haben die Jugendlichen ihre Musikgeräte im Ohr, ich weiß nicht, wie sie heißen. Sie haben ihr Radio und ihren Fernseher. Wenn sie es wollen, können sie in Musik ertrinken.

In der Gegenwart haben die Kinder und die Jugendlichen im Dorf alle nur denkbaren Angebote. Sie können Sport machen, sie können Musik hören, sie können tanzen. Für die Kinder gibt es einen Kindergarten. Für alle Altersklassen wird etwas angeboten. Von der Wiege bis zur Bahre. Die Säuglinge können schwimmen lernen, die ganz Alten können durch Gehirnjogging und Kartenspielen sich geistig fit halten. Es ist schon toll. Und was sich nicht im Dorf findet, ist in Schleswig zu finden. Alles ist organisiert.

Es ist seltsam, damals hatten die Eltern keine Zeit mit ihren Kindern zu spielen und heute haben sie auch keine Zeit. Aber heute werden die Eltern von ihren Kindern richtig in Trab gehalten. Allein schon die vielen Chauffeurfahrten mit den Kindern nach Schleswig zu irgendeiner Veranstaltung. Oje!

Uns wurde kaum etwas angeboten, aber wir hatten immer etwas gemeinsam zu tun. Wenn heute den Kindern und Jugendlichen nichts angeboten wird, was dann? Dann sitzt jeder in seinem Kämmerlein und wenn er keine Freunde hat, mit denen er was anstellen kann, langweilt er sich oder guckt in die Röhre.

Bettler
Von der verrückten Zeit während des Krieges und kurz danach abgesehen, war es im Dorf so üblich, dass alle sich untereinander halfen und beistanden. Natürlich gab es im Dorf Unterschiede zwischen den Menschen, aber selbst die Mägde und Knechte saßen in Hüsby auf den Höfen bei fast allen Bauern mit am Tisch. Und wenn es einem ganz besonders schlecht ging, wurde nicht gefragt, was er sonst im Dorf galt. Hilfe war selbstverständlich.

Auch wenn von außerhalb arme Menschen im Dorf bettelten - und während meiner Kindheit gab es viele Burschen, die vor unserer Tür standen und die Hand aufhielten, - war es so üblich, dass wir keinen im Regen stehen ließen.

Bei uns zum Beispiel stand auf der Kommode immer ein kleines Schälchen, in dem wir unsere Pfennige sammelten. Kam dann ein Bettler, erhielt er jedes Mal von uns 2 Pfennige. Und wenn jemand Geburtstag hatte, bekam er noch 2 extra dazu. Natürlich wussten die Bettler das. Manch einer stand dann, ich weiß nicht wievielmal vor unserer Tür und hatte jedes Mal Geburtstag. Meine Schwestern ärgerten sich darüber und wollten nichts mehr geben. Aber mein Vater war in dieser Angelegenheit immer ganz beständig. Die Bettler erhielten gewöhnlich auch etwas zu essen. Dann saßen sie auf der Leiter in der Lohdiele und löffelten ihren Teller Suppe. Es gab damals viele Bettler, die sich als Handwerksburschen ausgaben, aber keine Arbeit annahmen. Es waren zwar keine Wegelagerer, aber vorsichtig musste man schon sein, denn nicht selten nächtigten sie hier unerlaubt im Dorf und versuchten am nächsten Tag, das Dorf erneut abzugrasen.

Der russische Kriegsgefangene
Obwohl es während der Hitlerzeit keine Bettler mehr gab, waren immer noch genügend Leute hilfsbedürftig. Auch sie waren Menschen. Wir hatten ja während des Krieges eine Zeit lang einen russischen Kriegsgefangenen zum Helfen auf dem Hof. Damals war es Vorschrift, dass die fremden Arbeiter nicht mit den Deutschen beim Essen an einem Tisch sitzen sollten. Aber mein Vater hat sich darum nicht geschert. Er sagte: „Das ist auch ein Mensch“. Seinerzeit stand in der Küche beim Schornstein ein kleiner Tisch. Dort wurde für den Russen gedeckt. Es war aber nur eine Scheinaktion, denn der Russe aß immer mit uns zusammen. Aber wenn eine Kontrolle gekommen wäre, hätte es heißen können: das da, der kleine Tisch mit dem Teller, ist sein Platz.

Heute gibt es keine Bettler mehr, heute wird uns auch die Last der Entscheidung, ob und in welchem Ausmaß wir helfen wollen, abgenommen. Wir geben unser Geld einer Wohltätigkeitsorganisation.




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5. - Szenen auf einem Bauernhof 7.- Zeit zum Feiern