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Hüsby - Ein Dorf erinnert sich
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Zeit zum Feiern

Serie

mit Texten von Konrad Gutschke



Gildenfest, etwa 1932 


Dorffeste
Während meiner Kindheit vor dem Krieg waren die Unterschiede zwischen täglicher Arbeit und Feierabend, zwischen Wochentag und Sonntag und vor allem zwischen Alltag und Feiertag, das heißt, zwischen Arbeiten und Feiern weitaus größer als heute. Wann wurde damals schon groß gefeiert? Eine Feier war immer etwas ganz Besonderes und die Zeit des Feierns fiel noch vorwiegend in den Herbst und den Winter. Wenn dann aber ein besonderer Anlass zum Feiern gegeben war, verwandelte sich unser Alltag so, als wären wir in eine andere Welt versetzt.
Zum Beispiel wurde dann alles blitzblank gefegt und gewischt und in die „beste“ Stube kam Leben. Natürlich putzten auch wir uns heraus.
Wenn die Festlichkeit nicht im Dorf stattfand, war Gelegenheit auch einmal einen Weg nicht zu Fuß, sondern im Wagen zurückzulegen. Für feierliche Anlässe hatten wir extra einen Ausfahrwagen, einen Zweisitzer. Die Kutsche wurde zugerichtet: die Lederbezüge gewienert, die roten Samtkissen, mit denen der Wagen ausstaffiert war, abgestaubt. Die Petroleumlampen an jeder Seite des Wagens blitzten fleckenlos. Das war toll. Dann ging es zum Beispiel ab zum Peermarkt nach Schleswig mit Pferd und Wagen. Ich höre das Klickklack der Hufe auf dem Pflaster in der Stadt noch heute; es hörte sich so schön an. Auf dem Markt wurde dann ausgelassen gefeiert und auch gehandelt. Kam es dort zu einem geschäftlichen Abschluss, wurde der Handel mit einem Handschlag besiegelt. Und als es dann zurück ging, hingen an jeder Seite des Wagens zum Schmuck bunte Luftballons und wir Kinder vergnügten uns mit unseren „Blabüddels“.
Die Hauptfeste aber, an denen sich das ganze Dorf beteiligte, wurden von den Gilden ausgerichtet. Es gab die Bauern-, die Knechten-, die Schützen- und die Mädchen-Gilde. Zu den Gildenfesten kamen alle ohne Unterschied, obwohl es ursprünglich einmal wohl anders gewesen war. So hatte die Knechtengilde wohl in früheren Zeiten etwas mit den Knechten, den Beschäftigten zu tun. Aber schon während meiner Kindheit nahm man es mit den Standesunterschieden nicht mehr so genau und als ich erwachsen war, hatte sich ohnehin alles vermischt.
Besonderheiten bei den Gildenfesten gab es gleichwohl. Das Fest der Bauerngilde zum Beispiel war für die Verheirateten, für die Älteren, während die jungen Leute meist vorwiegend zum Fest der Knechtengilde gingen.
Zum Gildenfest der Bauern ging natürlich mein Vater immer hin und dann hieß es richtig: was kostet die Welt. Da hatte er seine Spendierbüx an und dann gab es für uns Kinder auch einmal eine Sprudel oder eine Brause.

Zu den Gildenfesten kamen die Leute von weit her aus der ganzen Gemeinde, zum Beispiel aus Pulverholz. Es war ein großer Zug, der mit Musik durch das Dorf zog. Es wurde auf alle erdenkliche Art gefeiert. Es wurde geschossen und Königinnen und Könige ernannt. Abends wurde getanzt. Auch für die Kinder beim Kinderfest ging es fröhlich zu. Neben der Gastwirtschaft auf einer Koppel wurde die große Attraktion für uns Kinder aufgebaut. Zunächst verankerten die Erwachsenen ein großes Gestell, das irgendwie von einem Rad herkam. Es war wohl eine Art Achslager, aber das weiß ich nicht so genau. Auf diesem drehbaren Gestell wurde dann ein langer dicker Baum mit Seilen festgezogen. Auf die äußeren Enden des Baumes zurrte man zum Schluss je einen Sitz fest und fertig war das „Karussell“. Da es keinen Eigenantrieb hatte, musste es geschoben werden. Neben den Sitzen, etwas außerhalb des drehenden Baumes waren Pfähle in den Boden gerammt, die oben einen Ring trugen. Auf jedem Sitz nahm ein Kind Platz und dann ging es los, immer in die Runde. Jedes Kind hatte einen Stock mit einem Widerhaken und es kam darauf an, beim Passieren des Pfahles auf den Ring zu zielen und ihn mit einem Stoß in der Mitte zu treffen. Wer auf diese Weise die meisten Ringe durchstieß, wurde König oder Königin. Da das Karussell von einer Bewohnerin des Dorfes geschoben wurde und die Treffsicherheit sich erhöhte, wenn die Geschwindigkeit des Balkens beim Passieren des Pfahles niedrig blieb, konnte es von Vorteil sein, sich mit der Frau gut zu stellen. War sie nämlich gnädig, verlangsamte sie die Fahrt. Auf diese Weise wurde auch ich einmal Königin.

Alle Gilden haben damals ihre Feste gefeiert, aber das war auch schon alles. Darüber hinaus gab es sonst wenig. Wer ging schon damals aus. Nur im Winter gab es noch etwas Besonderes. Da war immer „Klub“. Zum „Klub“ wurden die Nachbarn und Bekannten eingeladen - es ging reihum - und dann gab es an einer langen Tafel immer etwas zu essen. Allerdings zum Trinken gab es nichts.
Vieles von den alten Traditionen ist nach dem Krieg verloren gegangen. Es waren viele neue Leute hinzugekommen, Flüchtlinge, denen unsere Art zu leben und zu feiern unbekannt war. Wo sollten wir auch damals feiern, alle Räume waren ja belegt. In den nächsten Jahren ging dann jeder mehr seiner eigenen Wege. Das hat sich ganz langsam entwickelt. Aber noch heute werden in Hüsby die alten Hauptfeste gefeiert nach alter Sitte und altem Brauch. Und das ganze Dorf nimmt rege daran teil. Ich weiß nicht, wie es sich weiter entwickeln wird, vielleicht ja so, wie in den meisten Nachbardörfern, die nicht einmal genügend Leute zum Schützenfest zusammenbringen können.
Was es früher hingegen in dieser Form nicht gab, sind die vielen Familienfeiern, die im großen Kreis der Verwandten, Bekannten und Nachbarn in der Gastwirtschaft bei jeder Gelegenheit großartig gefeiert werden. Heute wird im Dorf gefeiert wie noch nie. Gefeiert werden die meisten „runden“ Geburtstage und viele Hochzeiten, nicht nur silberne und goldene Hochzeit wie früher. Da kommt es darauf an, dass möglichst viele Gäste kommen, 100 Leute sind eine gute Zahl, aber wenn es mehr sind, noch besser. Das kostet doch ein Heidengeld. Manche Feiern finden sogar mehrmals statt. Für die Freunde, Verwandten und für die Nachbarn werden getrennte Feiern ausgerichtet. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin jetzt 90 Jahre und es fällt mir manchmal richtig schwer, alle Einladungen anzunehmen. Wenn ich viermal in einer Woche zu einer Feier muss, bin ich danach total erledigt. Ich bin immer gerne zu den Feiern der Verwandten, Bekannten und Nachbarn hingegangen und auch jetzt halte ich es nicht anders, selbst wenn ich mich elend fühle. Kränken möchte ich niemanden.

Das Dorfbewusstsein
Vor dem Kriege waren wir eine geschlossene Gemeinschaft. Wir Hüsbyer! In diesem Bewusstsein lebten wir. Es gab zwar unter uns Unterschiede, auch Standesunterschiede und es wurde auch darauf geachtet, wer mit wem ging. Aber in der Not hielten wir immer alle zusammen. Unsere ganze Gemeinschaft war auf der Hilfsbereitschaft der einzelnen gegründet. Ein soziales Netz, von dem heute immer geredet wird, gab es nicht.
Wir Hüsbyer als Geestbauern standen zwischen den Bauern der Marsch und denen aus Angeln. Wir galten als die armen und rückständigen. Die Angeliter hatten mit uns nicht viel im Sinn. Ihr Standesdünkel führte dazu, dass das Einheiraten nach Angeln oder in die Marsch so eine Sache war. Wir aber waren stolz. Wir versuchten in allen Belangen den Anschluss zu erreichen und wir hielten uns immer zugute, dass wir mitmenschlicher waren. Bei uns saßen die Mägde und Knechte mit am Tisch und wir machten auch keinen Unterschied zwischen „Binnendeerns“, die nur innerhalb des Hauses und in der Bauernfamilie arbeiteten und den „Butendeerns“, die mit den " Herrschaften " kaum etwas zu tun hatten.
Wir hatten auch unsere eigene Sprache, das Hüsbyer Platt, das sich in einzelnen Redewendungen selbst von dem Platt der Nachbardörfer unterschied. Plattdeutsch war ohnehin unsere Sprache. Wir sprachen sie alle fast ohne Ausnahme. Als ich in die Schule kam, sprach ich noch kein Wort Hochdeutsch, auch die anderen Kinder nicht. Weil wir den Lehrer nicht verstehen konnten, hat er mit uns zuerst auch nur Plattdeutsch sprechen müssen. Ich weiß nicht, wie ich schließlich doch noch Hochdeutsch gelernt habe. Aber immerhin, jetzt kann ich es, obwohl ich viel lieber platt spreche. Ich denke ohnehin in Plattdeutsch.
In den letzten Jahrzehnten ist das Plattdeutsche hier im Dorf unheimlich zurückgegangen. Jetzt sprechen selbst die Kinder untereinander alle Hochdeutsch. Mir scheint, als hätte sich mit unserer Sprache auch unser Dorfbewusstsein aufgelöst. Damals war Hüsby nicht nur ein Dorf bei Schleswig neben vielen anderen, sondern es war unser Hüsby und wenn es drauf ankam, verteidigten wir es auch. Während zu Schuby immer ein bisschen Distanz bestand und zwischen Hüsby und Danewerk immer große Einigkeit herrschte, war unser Verhältnis zu Ellingstedt früher gespannt. Ich weiß nicht, woran das lag, möglicherweise war es ja nur so Tradition. Jedenfalls war Ellingstedt ein uns feindliches Dorf, in dem sich unsere jungen Leute nicht sehen lassen durften. Tauchten sie dort auf, war Vorsicht geboten, denn zu leicht bekamen sie das Fell voll. Die Sache war die, dass die Ellingstedter Angst hatten, dass die jungen Hüsbyer kämen, um ihnen die Mädchen wegzufischen. Da gab es öfter schon mal eine Prügelei. Ich erinnere mich an meinen ältesten Bruder, der musste dort auch heimlich „durch die Büsche“, hätte ich beinahe gesagt, verschwinden.




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6. - Freizeitgestaltung und Mitmenschlichkeit 8. - Die Veränderung