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Es war etwa 1930, jedenfalls war ich noch Kind, als wir mit unserem Lehrer einen Ausflug nach Schleswig machten. Ich erinnere mich nicht mehr an das Ziel unseres Ausflugs, nur noch daran, wie wir in der Stadt durch die Straßen liefen und sich Schleswiger Kinder über uns belustigten. Ich weiß nicht, ob wir anders aussahen als die Stadtkinder, auffällig aber müssen wir wohl gewesen sein. Die Kinder verspotteten uns, ich höre es noch heute: „Buern vom Land mit Ussenverstand.“ (Bauern vom Land mit Ochsenvestand). Ich war beleidigt und verängstigt, aber der Kinderspott öffnete mir auch die Augen für unsere damalige Rückständigkeit. Allein wenn ich an unser Plumpsklo denke. Es stand mitten auf unserem Misthaufen. Nur durch ein lose verlegtes Brett konnten wir Zugang zu unserem „Örtchen“ erlangen. Das ging auch meist ganz gut, nur regnen durfte es nicht. Dann nämlich wurde das Brett glatt und glitschig. Manche Stunde verbrachte ich auch unglücklich in dem Häuschen, weil ich mich nicht hinauswagte. Einer unserer Ganter hatte es insbesondere auf mich abgesehen. Er wachte dann bei dem Brett solange, bis ich den Ort verließ. Wir waren rückständig, die Verhältnisse z.T. primitiv. Wir aber wollten den Anschluss an die allgemeine Entwicklung gewinnen. Bereits in den 30 er Jahren strebten wir danach, die Verhältnisse umzugestalten.
Aber richtig los mit den Veränderungen ging es erst nach dem Krieg, d.h., nicht gleich von Anfang an. Zunächst waren wir noch ganz mit uns beschäftigt. Es gab die Not - gehungert haben wir zwar nicht, aber sonst fehlte es uns an allem: Kleidung, Schuhe. Und wir hatten auch keinen Platz.
Als sich die elementare Notlage gebessert hatte, die Leute wieder Arbeit und Wohnraum hatten, Geld verdienten und sich dafür auch etwas kaufen konnten, verwandelte sich das Dorf und mit ihm das Dorfleben. Sichtbar bahnten sich die Neuerungen in den fünfziger Jahren an, aber erst in den sechziger ging es ganz rasant voran. Die kleinen Katen wurden umgebaut und erweitert, neue Dächer wichen den Reetdächern und jedes Haus erhielt sanitäre Einrichtungen und neue Heizungen.
Natürlich träumten alle von einem Auto. Wir hatten zwar bis zum Ende der fünfziger Jahre noch keinen Wagen, aber mein Neffe hatte schon mit 16 Jahren seinen Führerschein, damit er den Trecker fahren konnte. Der Trecker war auch so eine Errungenschaft nach dem Krieg.
Einer der ersten, der ein Auto besaß, war der Müller. Weil wir damals allerdings noch eine große Gemeinschaft waren, ließ er die anderen im Dorf an seinem Besitz teilhaben. Als zum Beispiel manche Brautleute nicht mehr mit Pferd und Wagen zur Kirche fahren wollten, fuhr sie der Müller. Das war selbstverständlich.
In den fünfziger und dann vor allem in den sechzigern Jahren bekamen die meisten von uns in Hüsby ein Telefon, dann eine Waschmaschine und vielleicht noch einen Kühlschrank. Natürlich nicht alles auf einmal. Aber was der eine hatte, wollte der andere ja auch haben.
Ich glaube, die ganze Entwicklung kam so richtig in Schwung und überschlug sich dann bald durch das Radio und das Fernsehen. Ein Radio haben wir erst spät gehabt. Einer der ersten, das war noch vor dem Krieg - war einer unserer Nachbarn von oben. Er arbeitete bei der Überlandzentrale. Aber das war noch ein ulkiges Ding, an der Seite hatte es Spulen. Komisch! Unser erstes Radio in den fünfziger Jahren war da schon besser, wenn es auch manchmal nicht so richtig funktionierte. Aber toll war es doch. Wir hörten Musik, erfuhren, was draußen und in der Welt vorging und womit wir uns unser Leben erleichtern konnten. Wir wussten mit einem Mal, was es so alles gab und unser Begehren wurde geweckt. Nur Vater gefielen die Neuerungen überhaupt nicht. Wir hörten Musik und Gesang aus dem Radio, er aber sagte nur: "Singt mal lieber selbst." Manchmal wenn wir laute Musik hörten und aus dem Lautsprecher so eine hohe Stimme kreischte, konnte es sein, - wir kannten ja solche Musik nicht und vielleicht war ihm die Stimme auch zu hoch - rief er dann laut: "Schaltet das Ding bloß ab, da kreischt wieder diese Sack."(Erna Sack, 1898 - 1972, deutsche Kammersängerin, Sopranistin mit ungewöhnlicher Tonhöhe der Stimme, viergestrichenes "c".)
Man vergisst dieses Zeug schon mal, aber Vater hatte damals doch Recht. Wir bekamen die Musik ins Haus geliefert und hörten auf zu singen. Irgendwie verschwand die Musik aus dem Leben des Dorfes. Als ich Kind war, gab es hier Musik. Zum Beispiel schräg gegenüber in dem kleinen Haus wohnte früher ein älterer Mann. Wenn das Wetter es zuließ, saß er sogleich vor der Tür auf seiner Bank und spielte Quetschkommode. Und wenn wir es wollten, gesellten wir uns dazu. Wir saßen dann auf dem kleinen Wall und lauschten. Musik gab es nicht nur bei uns, sondern auch oben in der Schmiede. Wenn dort Kindergeburtstag war, spielte der Schmied auf und wir Kinder tanzten alle in der Schmiede zwischen den schmutzigen Gerätschaften und wurden selbst schmutzig. Das ist jetzt alles vorbei. Wir singen zwar immer noch, aber kaum noch die alten Lieder von früher. Jetzt sind mehr Lieder aus dem Englischen hinzugekommen. Vor allem aber, jetzt ist alles irgendwie geregelt und organisiert. Jetzt tritt keiner mehr vor sein Haus, wenn ihm so ist und fängt an zu singen oder ein Instrument zu spielen, und kein Nachbar kommt hinzu und singt dann vielleicht mit.
Bald nach dem Radio kam das Fernsehen. Das war ja was! Schon vorher hatten wir das Kino. In der Gastwirtschaft im Saal bauten sie ab und zu einen Kinoapparat auf und dann ging der Film ab. Das ganze Dorf strömte dort zusammen. Manchmal fuhren wir auch mit dem Fahrrad nach Schleswig und gingen ins „Metro“. Kino war eine Sensation mit großer Anziehungskraft. Aber als das Fernsehen kam, war das so, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Von da ab saßen wir alle zu Hause vor der Kiste, während wir sonst, wenn es schön war, draußen waren. Das ist der Unterschied. Hatten die Leute erst mal einen Fernseher, war es wie ein Sog, der keinen mehr losließ. Selbst die alten Leute, die sonst nichts mit technischen Neuheiten im Sinn hatten, ließen sich in seinen Bann ziehen. Ich weiß es noch wie heute, nebenan die beiden hatten früh einen Fernseher. Das war eine Attraktion für uns. Wenn dann mal ein Film oder etwas Interessantes lief, sagten sie immer Bescheid. Und glaubt mal nicht, da blieb einer zurück. Alle waren wir mit dabei.
Als ich dann Fernsehen hatte, war mit einem Mal auch bei mir die Bude voll, und ich musste irgendwo mit einem Platz in einer Ecke vorlieb nehmen. Sie kamen von oben und sie kamen von unten, um mitzugucken. Ich weiß nicht, wer außerdem noch da war. Jeden Abend hockten wir beim Fernsehen zusammen, solange bis jeder sein eigenes Fernsehgerät hatte.
Heute ist es so, dass manches Kind in seinem Kinderzimmer einen Fernseher hat. Das Familienleben kommt doch wirklich zu kurz. Und dann noch einen Computer. Nun ja, ich habe durch das Fernsehen viel gelernt. Ich weiß jetzt, was überall passiert. Ich schaue mir die Kochsendungen an, sehe etwas über Pflanzen und den Garten und vieles andere. So Politik, das interessiert mich nicht sehr. Da weiß ich auch nicht, was ich glauben soll. Aber durch die Arztsendungen zum Beispiel weiß ich jetzt sogar, was ein „Koma“ ist und was es heißt, einen Menschen zu „reanimieren“.
Und dann, ich bin ja allein, wenn die Kiste läuft und ich in der Küche arbeite, dann ist da immer eine Stimme. Es ist zwar Quatsch, aber ich habe das Gefühl, als würde jemand zu mir sprechen. Und ich bin nicht mehr so ganz allein.
Irgendwie sind wir ja Gefangene, aber was soll man machen. Den Fernseher abschaffen und den Strom ausschalten? Kaum vorstellbar! Etwa wieder mit der Laterne rumlaufen oder wie ganz früher mit der Ölfunzel? Wir hatten ja viele Jahre noch eine dieser Funzeln. Aber meine Schwägerin war immer der Meinung, das ist so ein Schiet, das kommt weg. Da hatte sie wohl recht.
Mittlerweile ist Hüsby ein schönes Dorf geworden wie aus dem Ei gepellt. Der Fortschritt ist hier Wirklichkeit geworden. Die Unterschiede zwischen den Menschen im Dorf, z. B. die zwischen den Bauern, Landarbeitern und Handwerkern sind aufgehoben. Auch die Unterschiede zwischen den Dörfern und die zwischen Dorf und Stadt existieren kaum noch. Wo man wohnt, ist nicht mehr eine Frage des Fortschritts. Die Bauern mit dem „Ochsenverstand“ gibt es nur noch in der Vorstellung oder im Fernsehen.
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