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Wohnen im Nachkriegs-Hüsby Wenn man heute durch Hüsby geht, trifft man kaum noch auf alte Katen, selbst die kleinsten Hütten von früher sind ausgebaut, vergrößert und herausgeputzt. Die größte Veränderung der letzten Jahrzehnte aber betrifft das Innenleben oder den Innenausbau der Grundstücke und der Wohnhäuser. Unser Wohnzimmer, das für heutige Verhältnisse beileibe nicht übergroß ist, war früher in drei kleine Zimmerchen unterteilt, deren Größe man an den Deckenbalken und den Ausfächerungen dazwischen noch heute ungefähr abschätzen kann. Die zwei Fächer vorne z.B. bildeten ein kleines Wohnzimmer für uns. Die Enge, in der wir damals hier lebten, ist mir erst richtig in den Jahren nach dem Krieg bewusst geworden, als hier jeder Raum und jede Kammer von Flüchtlingen und Russen und Polen belegt war. Selbst in der Werkstatt schliefen zuerst Flüchtlingskinder auf Decken. Die drei Wohn- und Schlafräume unseres Hauses lagen hintereinander, die beiden vorderen waren Durchgangsräume. Im hintersten Zimmer waren mein Bruder und ich untergebracht. Da kann man sich leicht vorstellen, wie schwierig es manchmal für uns Geschwister war, überhaupt in unseren Raum zu kommen. Wir konnten doch nicht ständig durch den Wohnraum der bei uns einquartierten Flüchtlingsfamilie marschieren. Was blieb uns übrig? Wenn es etwas spät wurde und mein Bruder und ich abends ins Bett wollten, mussten wir hinten zum Fenster rein. Es war so! Privatsphäre hatten wir überhaupt nicht. Gar nicht!
Polen und Russen Der Krieg, das Kriegsende und die ersten Nachkriegsjahre waren überhaupt eine wilde, verrückte Zeit. Ich war ja gerade erst sechs Jahre alt und habe deswegen nicht so viel mitbekommen. Aber meine Tante erzählt noch heute viele schlimme Geschichten. So überfielen z.B. Russen und Polen die jungen Frauen und Mädchen auf dem Hof einer meiner Tanten bei Hüsby und vergewaltigten sie. Dabei waren die Opfer selbst ehemalige Fremd- und Zwangsarbeiterrinnen aus Polen und Russland. Oder: eines Tages geht meine Tante durchs Dorf, als ein Panzerwagen die Dorfstraße entlangrattert. Sie traut ihren Augen kaum. Mitten auf dem Fahrzeug zwischen den Engländern der Schwiegervater ihrer Schwester. Was war geschehen? Dem Schwiegervater war von seinem Hof sein Fahrrad gestohlen worden. Überraschenderweise hatte er es aber einige Tage später im Dorf wieder entdeckt und an sich genommen. Der Russe aber, der das Fahrrad gestohlen hatte, war zu den Engländern gelaufen und hatte den Schwiegervater denunziert, worauf die Engländer auf dem Bauernhof anrückten. Der Schwiegervater wurde zwar umgehend wieder frei gelassen. Das Fahrrad aber musste er dem Russen überlassen. Er würde es erst wieder zurückerhalten, wenn der Russe in seine Heimat zurückgekehrt sei. Im Allgemeinen hatten wir mit den Engländern nichts zu tun. Nur wenn es um Differenzen mit den vielen Polen und Russen, den frei gelassenen Kriegsgefangenen, den ehemaligen Fremd- und den Zwangsarbeitern, die von den Engländern zur Arbeit und Logis auf dem Land eingesetzt waren oder um den Schwarzhandel ging, traten die Engländer als Polizisten und Richter in Erscheinung. Einmal gleich nach dem Krieg, mein Vater war noch in Gefangenschaft, hatten wir hier auf dem Hof einen Polen als Arbeiter. Er logierte draußen in der Kammer, aber zum Essen kam er immer zu uns ins Haus. Wir teilten mit ihm das, was wir hatten. Damit war er aber nicht zufrieden. Er beanspruchte eine Sonderrolle, die ihm aber meine Großeltern nicht einräumen konnten und wollten. Jedenfalls war er bald äußerst vergrätzt auf meinen Großvater und sann auf Rache. Verbotenerweise war er im Besitz einer Schusswaffe, ich weiß nicht welche, die er ergriff und damit aus dem Fenster der Kammer immer hoch zur Abnahme schoss, wo meine Großeltern lebten. In unserer Not riefen wir von der Gastwirtschaft aus die Polizei (Engländer), die auch unverzüglich kam. Es war Abendbrotzeit, wir saßen mit den Polizisten am Tisch und aßen gemeinsam. Der Pole wusste: Es gab Abendbrot. Wie gewohnt, so als ob nichts geschehen sei, wollte er sich das Essen nicht entgehen lassen. Er öffnete die Tür und erblickte die Polizisten, die mit uns am Tisch saßen. Da erst erkannte er, was die Glocke geschlagen hatte. Schnell schlug er die Tür wieder zu und machte sich aus dem Staub. Wir alle raus und hinterher! Es war nicht einfach, aber wir haben ihn doch wieder eingefangen. Er wurde abgeführt, und wir atmeten auf. Aber nach kurzer Zeit war er wieder da. An einer Strafverfolgung hatten die Engländer kein Interesse. Durch seine Verhaftung hörte zwar das Schießen auf, aber der Pole blieb weit davon entfernt, sein Verhalten grundsätzlich zu verändern. Einige Wochen oder Monate später, mein Vater war bereits wieder zu Hause, hörte ich auf dem Boden merkwürdige Geräusche. Ich rannte zu meinem Vater: „Da schlurrt etwas oben, irgendwas ist da!“ Mein Vater raus zur Lohdiele. Da sah er sofort, dass die Leiter nicht an ihrem alten Platz stand, sondern am Wohnungsboden gegenüber aufgestellt war. Ehe er aber genauer nachforschen konnte, hörte er nur, wie der Pole über den Boden lief, dann bei den Kühen durch die Luke sprang und schließlich nach oben hin verschwand. Der Pole hatte uns die Räucherkammer entleert. Er hatte die Würste und alles andere, was da hing, abgeschnitten und zum Abtransport einfach hingelegt. Seine Beute aber hatte er im Stich lassen müssen. Von den vielen Polen und Russen, die nach dem Krieg bei uns eingesetzt waren, verhielten sich die meisten aber friedlich und anständig. Gut, wir hatten auch einen anderen Polen, der dadurch unangenehm auffiel, dass er alles Mögliche zertrümmerte. Aber z. B. Dimitri, der war Spitze, ein ganz feiner Mensch. Zu ihm hatten wir alle Vertrauen. Wenn meine Eltern einmal weg waren, hat er abends auf uns Kinder aufgepasst. Dann saß er auf der Bettkante und hat uns Märchen vorgelesen. Ich denke manchmal an die Zeit nach dem Krieg zurück. Da gab es einen, ich weiß nicht, ob er Russe oder Pole war, der hat auch bei uns gearbeitet. An ihn erinnere ich mich noch heute gerne. Die Arbeiter haben sich im Kuhstall in einer Schüssel, die auf einem Ständer stand, gewaschen. Und jedes Mal am Sonnabend, ich wusste schon Bescheid, sagte er zu mir: „Kommst du nachher nochmal und wäscht mir den Rücken,“ was ich auch gerne tat. Denn jedesmal bekam ich eine kleine Tafel Schokolade. Das war so toll!
Schwarzschlachten Zu den vielen verbotenen Tätigkeiten nach dem Krieg gehörten das freie Handeln, das Schlachten und das Schnapsbrennen. Und doch gab es damals wohl niemanden in Hüsby, der sich nicht auf irgendeine Weise am Schwarzhandel, am Schwarzschlachten und an der Schnapsbrennerei beteiligt hat. Wir hatten einen Rübenkeller mit einer Betondecke gleich hinten am Stall. Er befand sich halb über, halb unter der Erde und war so geschützt, dass wir dort ohne große Gefahr entdeckt zu werden, schwarz schlachten konnten. Das manchmal laute Schreien der Tiere konnte man außerhalb des Kellers kaum noch hören. Wir schlachteten relativ regelmäßig. Es war immer ein Fest. Nie hat uns jemand verraten. Die Flüchtlinge und Arbeiter auf dem Hof schon gar nicht! Sie waren ja froh, denn sie bekamen immer etwas ab. Nur 1946 lief eine Aktion total schief. Mein Vater hatte mit dem Müller zusammen, der Beziehungen nach Friedrichsberg in Schleswig geknüpft hatte, einen größeren Tauschhandel eingefädelt. Drei Schweine, eins von uns, zwei vom Müller, sollten gegen Kleidungsstücke, Schuhe und dgl. eingetauscht werden. Das Geschäft war schon perfekt. Wir hatten die Kleidungsstücke bereits erhalten, nur die Schweine mussten noch abgeliefert werden. Sie wurden verladen und nach Schleswig transportiert. Mitten in Friedrichsberg aber wurden die schlimmsten Befürchtungen wahr. Die Schweine, die sich bis dahin ruhig verhalten hatten, begannen unruhig zu werden und schließlich laut zu quieken. Leute wurden aufmerksam: Was ist das denn, was ist das denn! Die Sache flog auf. Die Engländer wurden eingeschaltet und der Müller musste 14 Tage ins Gefängnis. Es war kurz vor Weihnachten. Ich war durch den Handel zu einem Paar brauner Lederhalbschuhe, mein Bruder zu einem neuen Mantel gekommen. Jeder hatte etwas erhalten. Wieder einmal ein schönes Weihnachtsfest! Am zweiten Weihnachtstag ging ich zu meiner Tante, um ihr meine Errungenschaften vorzuführen. Aber die Schuhe quietschten, worauf sie nur bemerkte: „Na, na, die sind wohl noch nicht bezahlt.“ Und 14 Tage später kommt die Kripo auf den Hof und hat alles, worauf wir uns so gefreut hatten, wieder abgeholt. Alles weg!
Schnapsbrennerei Das Schnapsbrennen war in der Regel unproblematisch. Jedenfalls ist mir nicht erinnerlich, dass jemand in Hüsby deswegen bestraft wurde. Zum Schnapsbrennen wurden Zuckerrüben gebraucht. Sie wurden gewaschen, zerkleinert und geschnitzelt und 14 Tage zum Gären in Holzfässer getan. Die Holzfässer standen im Stall. Dort war es selbst im Winter warm, wodurch der Gärungsprozess immer gut vorankam. Zusätzlich wurden die Fässer aber noch mit Jutesäcken abgedeckt. Wenn ich die Fässer im Stall entdeckte, wusste ich sofort Bescheid: Jetzt wird wieder Schnaps gebrannt. Und in der Tat, war der Gärungsprozess abgeschlossen, begann die Schnapsbrennerei. Dazu hatten wir hier in der Küche eine doppelte Milchkanne von 40 l. Die Maische wurde erhitzt Der Schnaps lief dann durch ein Rohr und wurde schließlich in einem Behälter aufgefangen. Einmal war es wieder soweit. Die Brennerei war in vollem Gange. Weil es aber im Raum schön warm war, benutzte meine Mutter die Gelegenheit, uns Kinder in einer Wanne zu baden. Dann auf einmal: Knall! Die ganze Chose war hoch gegangen. Überall lief die Maische. Wir hätten darin baden können.
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