Die Kehrseite der Medaille
Kinesis (Bewegung)
Hüsby - Ein Dorf erinnert sich
Sinn redet Unsinn
Die sieben Kreuze
Apokalypse
Nomen ipsum
Ruiniert
Der Anfang
Das Werden




Das Prinzip


Leseprobe aus DAS WERDEN: S. 9 - 33
1989



Werden ist Entstehen und Vergehen



1. Entstehen und Vergehen

Conny: Wir wollen heute mit Heraklits Lehre fortfahren. Bei Zenon hatten wir für das Sein die Bestimmungen bewegt und unbewegt, die sich zerstören. Mit der Zerstörung der Bestimmungen war für ihn das Sein jedoch nicht gleichfalls zerstört. Es blieb als reines Sein weiter erhalten. Wie ihr wisst, blieb er bei der Behauptung der Eleaten: "Es ist nur das Sein. Das Nichts ist nicht". Die Eleaten sprachen das Nichts zwar immer aus, wenn sie das reine Sein behaupteten, sie begriffen es aber nicht als notwendige Bestimmung des Seins. Sie blieben einseitig.
Rosa: Also: Das Sein ist nicht das Nichts. Damit gehört das Nichts zum Sein, und Sein und Nichts müssten sich dann zerstören.
Conny: Ja. Die gegenseitige Zerstörung von Sein und Nichts haben wir selbst bei Zenon noch vermisst. Jetzt erst, durch Heraklit wird sie ausgesprochen, allerdings nicht als eine Zerstörung, bei der das Ergebnis Null ist. Durch das Zerstören, den Krieg, wie Heraklit es nennt, kommt es erst dazu, dass überhaupt etwas da ist (Dasein). Von ihm sind Sätze überliefert wie:

Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss hineinzusteigen, so Heraklit. (Der Fluss) zerstreut und bringt wieder zusammen (...) und geht heran und geht fort. (96)(*)
oder:
Lehrer der meisten ist Hesiod; sie sind überzeugt, jener wisse das meiste, der Tag und Nacht nicht kannte: die sind ja doch eins! (17)

Den letzten Ausspruch könnten wir ein wenig abändern und sagen: "Der Tag (das Sein, das Alte, das Gute, das Leben) ist dasselbe wie die Nacht (das Nichts, das Neue, das Böse, der Tod)".

Schließlich fügt Heraklit noch hinzu:
Sich wandelnd ruht es aus (das Feuer, das Werden). (70)

Heraklit behauptet also, dass unser All nichts Festes, Sichselbstgleiches oder Sein ist. Es ist immer ein anderes. Dennoch, obwohl immer zerfallen in dies und das, in Sein und Nichts (lebendig-tot, alt-neu, Tag-Nacht), ist es auch immer dasselbe. Bei aller Unruhe ist Ruhe. Alle diese Bestimmungen machen das Werden aus. Das Werden ist das Eine.
Was meint ihr dazu?
Jan-Christoph: Oh!

Conny: Vorstellen lässt sich das Werden als Fließen eines Stromes. Platon sagt von Heraklit: "Er vergleicht die Dinge mit dem Strome eines Flusses, - dass man zweimal in denselben Strom nicht einschreiten könne".
Jan-Christoph: Na klar, kann man das!
Conny: Es ist das Strömen eines Flusses gemeint, nicht der Fluss, den ich von seiner Tätigkeit, dem Strömen unterscheiden kann. Das Strömen ist nichts Festes. Ich kann es in Wahrheit nie feststellen; sollte es mir jedoch gelingen, ist es kein Strömen mehr. Es hat seine Wahrheit verloren. Das All ist also nach Heraklit kein unbewegtes Sein, auch kein bewegtes Nichts (reine Bewegung), sondern die Einheit beider, die Werden genannt wird.
Anke: Wenn du ein zweites Mal ins Wasser eines Flusses steigst, triffst du auf ein anderes Wasser.
Jan-Christoph: Ich werde immer in den gleichen Fluss gehen. In diesem Satz steckt doch das Werden nur in dem Wort "werden".
Rosa: Ha, ha, ha! (gesprochen)
Conny: Wenn ich dich recht verstehe, sollen in deinem Satz "ich" und der "Fluss" feststehen. Der Fluss ist starr wie ein Fluss auf einer Landkarte. Das Werden soll allein in der Zukunft deines Hineingehens bestehen. Heraklit aber fordert in seinem Satz, Alles als Fließen aufzufassen. Das Fließen des Stromes ist etwas sinnlich Wahrnehmbares. Es soll uns den Gedanken Werden anschaulich machen. (Absolut) Alles ist nach ihm Werden: der Fluss, der Mensch und auch die Tätigkeit des Hineinsteigens. Das Sein ist in Wahrheit Werden.

Wenn ihr euch noch einen Moment auf die Eleaten besinnt und dann den Satz, dass das Sein Werden ist, bedenkt, was fällt euch dazu ein?
Rosa: Ha! Wo kommt denn das Neue her? Werden heißt doch, dass immer Neues ist. Bei den Eleaten aber hatten wir gehört, dass nichts Neues entstehen kann, weil es aus dem Nichts kommen müsste. Wenn jetzt aber nur Werden sein soll, - und Werden ist doch "Immer-Neues-Entstehen", - müsste geklärt werden, wo das Neue herkommt. Wenn wir das versäumen, übernehmen wir eine Voraussetzung, die nach den Eleaten nicht gemacht werden darf. Wir wären wieder dort, wo die Eleaten angefangen haben.
Jan-Christoph: Conny, dazu fällt mir ein: Nur aus dem Sein oder dem Alten kann nichts kommen, nur aus dem Nichts kann auch nichts kommen. Also ist das Werden auch nicht das Wahre. Es ist genauso eine Täuschung wie Sein und Nichts.
Conny: Das gefällt mir. Ihr redet jetzt wie Eleaten. Du, Rosa, glaubst, bei Heraklit eine zweifelhafte Voraussetzung zu entdecken, aber du übersiehst, dass du selbst eine zweifelhafte Voraussetzung triffst.
Rosa: Wieso! Das beweis mir mal!
Conny: Werden heißt bei dir "Immer-Neues-Entstehen".
Rosa: Was ist daran zweifelhaft? Wenn alles fließt, kommt immer Neues. Anders kann das gar nicht sein.
Conny: Ich zweifle daran, dass Heraklit damit einverstanden gewesen wäre. Er hätte vielleicht eingewendet, Werden heißt doch nicht, dass immer Neues entsteht, sondern dieses Neue ist selbst Entstehen. Es kommt nicht irgendwoher aus einem festen X, es ist nicht an und für sich für eine bestimmte Zeit fest da, es verschwindet auch nicht.

Nun können wir uns, glaube ich, schon darauf einlassen, dass Werden "Immer-Neues-Entstehen" ist. Allerdings müsste ich dann hinzufügen, es ist auch "Immer-Altes".
Rosa: Wenn es das Alte sein sollte, ist gar kein Werden. Wenn du behauptest, Werden sei das Alte, dann hast du das Werden aufgehoben.
Conny: Du hast gesagt, Werden sei "Immer-Neues". Ich behaupte aber, Werden ist auch "Immer-Altes". Ich sage nicht, Werden ist nur Altes.
Anke: Meinst du mit dem Alten immer das gleiche, das Sichselbstgleiche?
Conny: Ja.
Rosa: Ja eben, dann ist kein Werden.
Conny: Wieso, das verstehe ich nicht?
Rosa: Tu nicht so! Wenn Werden ist, muss Neues entstehen, und es muss irgendwo herkommen. Wenn aber Werden auch nur ein bisschen vom Alten ist, gibt es eigentlich kein Werden mehr. Dann ist das Sein, das Sichselbstgleiche. Dann ist Ruhe.

Conny: Was sagst du dazu?
Jan-Christoph: Zu was?
Conny: Zu dem, was Rosa sagt.

Rosa: Der hört mir nicht einmal zu!
Jan-Christoph: Nee, warum auch! Du hörst mir auch nicht zu.
Rosa: (lacht laut)
Anke: Ihr wollt wohl so weitermachen wie bisher!

Conny: Also ... (Pause)
Jan-Christoph: Sprachstörungen?
Conny: Scheint so. Also:

Erstens wollen wir versuchen herauszufinden, was Werden ist.
Zweitens wollen wir wissen, wenn Alles Werden sein sollte, ob damit der eleatische Standpunkt hinfällig sein sollte, dass es kein Entstehen und Vergehen gibt.
Die zweite Frage, schlage ich vor, sollten wir erst zu einem späteren Zeitpunkt behandeln. Ich glaube nämlich nicht, dass wir sie ohne befriedigende Beantwortung der ersten Frage schon jetzt ausreichend lösen können.

Das Sein der Eleaten soll nach Heraklit in Wahrheit Werden sein. Für uns ist Werden zunächst nur ein Ausdruck, den wir mit Inhalt füllen wollen. Was ist Werden? Werden heißt nach Rosa: "Immer-Neues". Wäre Werden Altes, würde es wie Feuer, das nichts mehr zu verzehren hat, erlöschen. Es wäre nur unbewegtes Sein.
Jan-Christoph: Conny, darf ich weitermachen?
Conny: Bitte.
Jan-Christoph: Wir haben doch gesagt, wenn Altes ist, kann nichts werden. Jetzt ist Werden: Nur-Neues. Aber wenn Nur-Neues ist, wie soll denn da Werden sein. Nur aus dem einen kann das Werden nicht bestehen.
Rosa: Du hast mir wieder nicht zugehört, was ich gesagt habe!
Conny: Ich glaube schon. Er bezweifelt nur, dass Werden heißt: "Immer-Neues". Wenn es immer "Nur-Neues" ist, erlischt das Werden ebenfalls. .
Rosa: Ja, Janni, du bist gut! Nur ich habe das nicht verstanden.
Conny: Rosa, wenn du sagst, dass Werden "Immer-Neues" ist, meinst du damit, dass Werden Entstehen ist?
Rosa: Ja, würde ich schon sagen.
Jan-Christoph: Ich meine das nicht.
Conny: Sondern?
Jan-Christoph: Wenn Werden "Immer-Neues" ist, ist "Nur-Neues". Nichts entsteht da. Es ist einfach nur Neues.
Rosa: Ach, Janni!
Conny: Wenn ständig etwas Neues kommt, entsteht da nichts?
Jan-Christoph: Wieso kommt ständig was Neues? Wenn ständig Neues kommt, steht das Neue dennoch, ganz einfach.
Rosa: Eh Janni?
Anke: Du meinst doch auch, wenn etwas wird, entsteht es?
Jan-Christoph: Ja, Werden ist schon Entstehen. Aber wenn nur Neues kommt, entsteht nichts. Durch solches Entstehen kann sich nichts bewegen. Es ist bloß ein anderer Name für: "es ist nur Neues".
Rosa: Du behauptest die Bewegung. Und dann behauptest du, dass die Bewegung wieder Ruhe ist. Das ist doch Quatsch!
Jan-Christoph: Welche Bewegung?
Rosa: Wenn du Entstehen sagst, ist es immerhin Bewegung. Dann kannst du nicht sagen: Etwas, das entsteht, bewegt sich nicht.
Jan-Christoph: Hm. Aber das hast du doch behauptet!
Conny: Also, wenn nur Neues ist, ist das Entstehen oder das Werden nur dem Wort nach Entstehen?
Jan-Christoph: Was! Kannst du das noch mal sagen?
Conny: Wenn nur Neues sein sollte, ist das Entstehen nur dem Wort nach Entstehen. Es ist leeres Gerede. Es wäre nämlich nur Sein.
Jan-Christoph: Ja, genau! Ich will dazu noch was sagen. Hier, Conny, was ist, wenn du sagst, dass nur Neues ist, dass es sich bewegen soll und dann das Gegenteil dazu, das Alte, wegnimmst? Dann steht das Neue doch.
Conny: Wie bitte?
Jan-Christoph: Guck mal, das soll das Neue sein. Es kommt jetzt, es bewegt sich. Und hier ist das Alte. Aber wenn es kein Altes gibt, steht die Bewegung sofort, und das Neue kann gar nicht kommen.

Hier Conny, habe ich dieses Glas. Wenn es neu werden sollte, müsste es doch die Form verändern. Das tut es zwar nicht, aber wir nehmen das mal an - es ist jetzt hoch, dann müsste es auf einmal ganz flach sein wie eine Flunder. Wenn es nun gerade in der Bewegung ist, muss doch gleich hinter dem Neuen das Alte sein. Aber wenn ich nun das Alte wegnehme, gibt es nur Neues und ich kann das Neue dann greifen. Wenn ich das Alte wegnehme, kann sich das Neue nicht bewegen. Es kann gar nicht kommen.

Also: Wenn es das Alte nicht gibt, wird nichts, dann verändert sich nichts. Dann könnte es sein, dass das Glas zeitlos ist.
Conny: Gut. Das Neue gibt es nur durch das Alte, oder wenn das Neue nicht die Möglichkeit hat, alt zu sein, erlischt das Werden. Es gäbe nur das unbewegte, leere Sein der Eleaten. Pause
Anke: Was ist Werden eigentlich für eine Bewegung?
Rosa: Vom Neuen zum Alten und vom Alten zum Neuen.
Conny: Und die Bewegung "Immer-Neues" nennst du Entstehen?
Rosa: Nee! Werden ist Entstehen und Vergehen, - zusammen.
Conny: Also: Werden ist demnach nicht nur Entstehen, sondern es hat auch eine andere Seite, die du Vergehen nennst. Und wenn wir Werden nur als Entstehen und nicht sogleich auch als Vergehen bestimmen, verschwindet das Werden und mit dem Werden Entstehen und Vergehen. Es bliebe festes, unbewegtes, leeres Sein oder bewegtes Nichts.

Halten wir fest: Werden ist Entstehen und Vergehen, d.h. Neues und Altes, Nichts und Sein. Werden ist die Einheit dieser Unterschiedenen.
Rosa: Ja, muss ja so sein. Wenn etwas entsteht, ist das Neue schon vergangen, ich meine, dann ist das Neue das Alte.
Conny: Sagen wir: Alles ist Werden. Im Werden unterscheiden wir Entstehen und Vergehen (Altes und Neues, Sein und Nichts). Im Werden sind sie aber auch vereint. Im Werden geht Entstehen in Vergehen über und umgekehrt. Werden heißt, im Entstehen zu vergehen. Werden können wir als die Mitte des Gegensatzes von Entstehen und Vergehen auffassen. Deshalb ist auch die Gegenüberstellung von Werden und Vergehen als Gegensatz, wir ihr sie bei manchen Philosophen finden könnt, nicht korrekt. Dem Werden als Einheit von Entstehen und Vergehen nämlich steht als Gegenteil, wie ihr auf der Zeichnung sehen könnt, Entstehen und Vergehen als Zweiheit gegenüber.

Jan-Christoph: Du hältst jetzt daran fest, dass Werden Neues und Altes ist. Wenn ich aber das Alte wegnehme, ist das ganze Quatsch.
Rosa: Das Alte wird doch auch immer weggenommen, und das Neue kommt immer hinzu.
Jan-Christoph: Wenn das Alte ganz und gar weg ist, so dass es überhaupt kein Altes mehr gibt, ist nur noch Neues.
Rosa: Das stimmt, aber dennoch gibt es das nicht. Das Neue ist nämlich im selben Moment schon wieder alt. Das haben wir doch jetzt geklärt. Warum fängst du eigentlich wieder damit an?
Conny: Im Werden sind Neues und Altes zusammen. Nur-Neues und Nur-Altes gibt es gar nicht. Gäbe es sie getrennt, träfe das zu, worauf du hinaus willst, Janni. Dann gäbe es kein Werden. Neues ohne Altes, Altes ohne Neues, wie sagtest du vorhin, - das Glas wäre in diesem Falle zeitlos. Es wäre unbewegt, ununterbrochen, sich selbst gleich. Es wäre leeres Sein.
Rosa: Das stimmt. Das hatten wir auch schon bei Pythagoras festgestellt! Los, Janni, erinnere dich!
Jan-Christoph: Was soll ich? - Das verstehe ich jetzt aber nicht. - Werden ist Entstehen und Vergehen. Es ist ein Gegensatz. Willst du das jetzt wissen? - Werden ist Zeit, weil immer etwas anderes ist.
Anke: Ja, Negation des Raumes.
Rosa: Zeit ist Bewegung, die Anderswerden ist - also Werden! Siehste Janni!
Conny: Gut, die Zeit können wir als Werden auffassen. Wir könnten mit Heraklit sagen:

Die Jahreszeiten, die, nach Heraklit, alles zuführen und abführen. (85)
oder mit einer anderen Übersetzung von Hans-Georg Gadamer (Zählung nach Kranz/Diels):
Die Zeiten sind es, die immer alles bringen. (100)

Rosa: Also, für Heraklit ist Zeit ein anderer Ausdruck für Werden?
Conny: Er versucht wohl eher den Gedanken "Werden" in die Vorstellung zu bringen.
Rosa: Klar! Das Werden ist für ihn auch das Feuer und das Fließen, nicht wahr? - Das sind nur noch konkretere Vorstellungen. -

2. Das haltungslose Werden

Rosa:
Aber hör mal! Wenn alles durch das Werden entstehen soll, und wenn alles im Entstehen auch vergeht, wie kann da überhaupt etwas entstehen?
Jan-Christoph: Versteh ich auch nicht.
Conny: Das wollen wir gleich herausfinden. - Werden, können wir vorerst zusammenfassen, ist die Mitte von Entstehen und Vergehen. Werden ist immer der Moment, in dem Entstehen und Vergehen ineinander übergehen. Sie gehen ineinander über, weil sie getrennt und zusammen sind. Entstehen und Vergehen gibt es nur als Momente, als Momente des Werdens. Entstehen und Vergehen scheinen jedes für sich zu sein. Aber jedes hat das andere an sich. Isolieren wir z.B. das Entstehen, zeigt sich, dass es an sich selbst schon immer Vergehen ist. Für das Vergehen gilt das gleiche.
Jan-Christoph: Conny, wenn ich dich jetzt richtig verstehe, hieße das doch, dass du schon bei deiner Geburt weg wärst.
Conny: Richtig.
Jan-Christoph: Aber du bist doch jetzt noch da.
Conny: Das, was da ist, ist die Mitte von Entstehen und Vergehen. Das heißt nur, dass ich, indem ich bin, auch immer nicht bin. Heraklit drückt das so aus:

Kaltes wird warm, Warmes kühlt sich ab, Feuchtes trocknet, Trockenes wird feucht. (65)
Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses. (67)

Jan-Christoph: Und wie ist es mit der Kerze hier? Wenn die hergestellt worden ist, müsste sie schon wieder weg sein, aber ich halte sie noch in der Hand. Also muss das, was du sagst, Schwachsinn sein.
Conny: Wieso? Glaubst du denn, dass die Kerze, die du in der Hand hältst, unveränderlich ist? Sie ist zwar ruhig, sie dauert, aber Dauer ist etwas Relatives.
Rosa: Janni. Die Kerze ist doch immer auch im Vergehen. Sie ist immer anders.

Conny: Du hast schon recht, Jan-Christoph, sie dauert. Aber dennoch ist sie auch immer eine andere
Anke: Du bist auch ständig ein anderer. Du bist Werden, Zeit, Leben, Seele, Geist.
Jan-Christoph: Ja, das ist so beim Lebendigen, aber wie ist es beim Toten. Das hier verändert sich doch nicht. (nimmt ein Blatt Papier in die Hand)
Anke: Es ist immer in einem anderen Jetzt, und damit an einem anderen Ort ...
Rosa: ...Janni, schau doch hin. Du hast es doch gerade verändert. Du bewegst es mit der Hand. Ich weiß gar nicht, was du willst.
Jan-Christoph: Ich sehe nichts. Halt! Könnt ihr mal warten, damit wir sehen, wie es sich verändert.
Conny: Für deine Augen dauert es sicher lange Zeit unverändert. Aber die Augen sind etwas Ungenügendes, wenn du nicht in der Lage bist, dir auf das, was du siehst, den richtigen Vers zu machen. Von Heraklit sind dazu mehrere Sätze überliefert:

Schlechte Zeugen sind den Menschen Augen und Ohren, wenn sie unverständige Seelen haben. (37)
Die ohne Verständnis hören, gleichen Tauben; das Sprichwort bezeugt es ihnen: "Anwesend sind sie abwesend". (6)


Für Rosa z.B. bist du sehend blind. Wenn wir von etwas sagen, es ist, dann würdest du doch zugeben, dass es in der Zeit ist oder mit der Zeit. Wenn es aber mit der Zeit ist, dann wird es. Es ist zu jedem Zeitpunkt auch immer ein anderes, denn jeder Zeitpunkt ist als Moment an sich selbst auch immer ein anderer. Zeit hattest du selbst vorhin als Werden bestimmt.
Rosa: Das Glas, das jetzt ist, ist auch jetzt nicht, Janni. Selbst wenn du keine Veränderung siehst! Dem Gedanken nach, Janni, ist das Glas im selben Moment auch immer ein anderes.
Conny: Also, Jan-Christoph, alles, was (etwas) ist, wird in Wahrheit. Es ist auch immer etwas anderes. Für unser Sehen - für unser Hören gilt das hingegen nicht - scheinen die Gegenstände für einige Zeit fest zu sein, und dann erst tritt plötzlich eine Veränderung auf. Im Deutschen sagen wir z.B.: Ein Krug geht solange zu Wasser, bis er bricht. Ein Krug scheint lange Zeit unverändert zu bleiben, dann mit einem Male verändert er sich. In unserem Falle geht die Veränderung so weit, dass der Krug sich nicht mehr erhalten kann. Er geht kaputt.
Jan-Christoph: Ja, Conny, ein Krug entsteht und vergeht. Aber er dürfte gar nicht entstehen, wenn Entstehen und Vergehen zusammen sind. Z.B.: Dieser Brotkrümel müsste doch, sobald er entsteht, auch gleich wieder weg sein.
Rosa: Er ist ja auch dabei, immer wegzugehen.
Jan-Christoph: Wie soll ich das verstehen? Ist das Entstehen viel schneller als das Vergehen? - Nee!
Conny: Entstehen ist immer auch Vergehen. Es ist eine notwendige Verbindung.
Jan-Christoph: Conny!
Rosa: Hör mal zu, Janni! Vergehen ist doch nicht gleich Sterben oder Wegsein. Neues entsteht, heißt nur, dass sich etwas verändert. Und wenn sich etwas verändert, entsteht nicht nur etwas, jedenfalls für uns, sondern es vergeht auch etwas.
Conny: Jan-Christoph, ich glaube, die Schwierigkeit, die du hast, alles als Werden zu begreifen, ist die Schwierigkeit, die Menschen von altersher haben, wenn sie Heraklit zu begreifen versuchen. Für unsere gewöhnliche Vorstellung entstehen die Dinge, dann bleiben sie eine zeitlang fest, bewegen sich irgendwie linear im Strom der Zeit, was nun wieder eine Raumvorstellung ist, vorwärts. Schließlich vergehen sie. Die Dinge dauern, sagen wir. Aber Dauer, hatten wir gesagt, ist etwas Relatives. Selbst wenn wir hier Millionen Jahre auf den Zerfall dieses Glases warten, schrumpft die lange Zeit, in der das Glas fest zu sein scheint, zu einem Moment, wenn ich eine sogenannte "unendlich" lange Zeit dagegen halte. Die Dinge dauern nur in Beziehung auf anderes. Dauer ist die Ruhe in der Beziehung auf anderes. Wenn wir nun von der Dauer dieses Glases absehen, dann würdest du ganz sicher sagen: das Glas ist, sobald es entsteht, auch wieder weg.
Jan-Christoph: Aber es dürfte dann gar nicht dasein. Ich versteh' einfach nicht, wie es dann überhaupt ein Glas gibt.
Conny: Ehrlich gesagt ich auch noch nicht. Und ich weiß auch nicht, ob wir jetzt dadurch etwas gewinnen, wenn wir alle Dinge als daseiend voraussetzen und annehmen, dass sie sich dann auch noch irgendwie verändern. Rosa sagt: Neues entsteht, heißt, etwas verändert sich. In diesem Satz setzt Rosa jedoch ein unveränderliches Etwas, ein Halt im Werden, voraus. Davon finden wir bei Heraklit zunächst aber nichts. Er sagt:
Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses. (67)
Auf der Peripherie des Kreises fallen Anfang und Ende zusammen. (56)


Beziehen wir diese Aussprüche einmal auf deine Behauptung Janni, ich müsste bei meiner Geburt schon weg sein. Wenn Anfang und Ende zusammenfallen, dürfte ich nie sein, das meinst du doch?
Jan-Christoph: Ja, genau.
Conny: Was ist nun das Ende, der Tod, das Gegenteil der Geburt? Es ist nicht der Tod, d.h. das Ende des Lebens, sondern das Ende, der Tod der Geburt, ist unser selbständiges Leben. Aber du kannst auch die Geburt für sich allein nehmen. Jeder Augenblick der Geburt ist auch im gleichen Augenblick vorbei.
Jan-Christoph: Ja, das stimmt. Aber Entstehen ist nicht nur Vergehen, sondern Vergehen ist auch Entstehen. Nämlich dieses Blatt sehe ich jetzt hier und wenn hier ein Loch entsteht, vergeht das Blatt wie es war. Jetzt müsste aber dieses Loch auch gleich verschwinden, also wieder zusammengehen.
Conny: Das Loch muss nicht zusammengehen, aber es verändert sich. Also es vergeht und im Vergehen entsteht etwas Neues.
Jan-Christoph: Hm, ja.
Anke: Die Veränderung ist permanent.
Jan-Christoph: Aber Anke, guck mal hier! Ich mach jetzt hier drei Striche. Jetzt schmeiße ich das Blatt hin, und wenn ich morgen wiederkomme, sind immer noch nicht mehr. Also entsteht nichts mehr.
Conny: Ganz schön pfiffig. Du hast recht. Morgen sind noch genauso viele Striche da. Du meinst, wenn die Dauer sich nicht auf das was, sondern die Anzahl bezieht, würden Entstehen und Vergehen aufhören. Aber das trifft nicht zu. Die drei Striche sind doch ebenfalls mit der Zeit. Damit sind sie im selben Augenblick auch andere drei. Sofern die drei Striche mit der Zeit sind, sind sie nicht drei sondern sechs, positive drei und negative drei. Und weil sie mit der Zeit sind, hast du nicht nur sechs, sondern im Handumdrehen unendlich viele, d.h., so viele du haben willst. Tote, feste drei hast du immer nur, sofern du die Zeit, das Werden entfernst.

Also Jan-Christoph, Alles ist Werden, Veränderung, Zeit, Feuer, Fließen. Aber es gibt auch so etwas wie Dauer. Sofern die Dinge dauern, scheinen sie sich aber nicht zu verändern. Die Veränderung tritt dann als plötzlicher Sprung auf. Aber auch während die Dinge dauern, werden sie. Entstehen und Vergehen hören nicht auf. Im Werden schlägt das eine in das andere um. Im Werden ist das eine mit dem anderen vereint. Altes (Sein) und Neues (Nichts) sind zusammen, ebenfalls Entstehen und Vergehen, Anfang und Ende, Ruhe und Bewegung etc. Wenn Alles (auch alles Einzelne) Werden ist, ist Alles Einheit, dann ist Alles etwas Allgemeines. Das Werden ist das Eine.
Rosa: Damit ist aber meiner Meinung nach immer noch nicht geklärt, wo das, was da ist, nun herkommt. Wenn nämlich radikal alles Werden ist, löst sich alles auf und es kommt wieder nur das Sichselbstgleiche raus, das reine Nichts.
Conny:
Naja! Ich glaube zwar, dass du deine Frage, wenn wir das Werden tatsächlich begriffen haben, gar nicht mehr stellen wirst, aber ich nehme zur Kenntnis, dass bisher der eleatische Standpunkt nicht erschüttert ist.
Rosa: Gut, machen wir das nächste Mal dort weiter.
Conny: Nur eine Bemerkung noch: Wenn ihr, du oder Janni behauptet, die Dinge, z.B. das Glas verändern sich immer, was sprecht ihr eigentlich damit aus? - Die Veränderung des Unveränderlichen.
Jan-Christoph: He? Das geht gar nicht. Das ist ein Widerspruch.
Conny: Na, verändern sich nicht alle Dinge?
Rosa: Mensch, ja, wie ist das zu verstehen! Wenn die Dinge sich wirklich immer verändern, dürfte es sie gar nicht geben, und wenn es sie wirklich geben sollte, dürften sie sich nicht verändern.
Jan-Christoph: Vielleicht verändern sie sich immer nur ein bisschen.
Rosa: Das ist Quatsch! Dann kommst du höchstens wieder auf die Dauer. Wenn die Dinge sich auch nur ein bisschen verändern, sind es andere und dann dürfte es sie gar nicht geben.

3. Die Ruhe im Werden oder das Dasein


Conny: Jan-Christoph hat das letzte Mal daran gezweifelt, dass alles Werden ist. Er hat uns verschiedene Beispiele genannt, mit denen er z.B. die Unveränderlichkeit von Dingen glaubte, beweisen zu können. Er ist da zunächst auf die Dauer gestoßen. So meinte er, dass drei auf ein Papier gezeichnete Striche auch morgen noch unverändert seien.
Jan-Christoph: Das habe ich niemals gesagt.
Conny: Was!?
Rosa: Das ist doch völlig egal. Auf jeden Fall ist es doch so, dass du nicht verstehst, dass alles Werden ist. Oder?
Jan-Christoph: Hm! Ja.
Rosa: Siehste!
Conny: Was ist nun, Jan-Christoph, ist alles Werden?
Jan-Christoph: Nee, das kann gar nicht sein. Wenn alles Werden ist, was sind wir dann? Was ist denn das hier alles? Und was ist etwas, das in der Zeit stehenbleibt?
Anke: Ich glaube, du vermisst im Werden den Halt. Du fragst dich, wenn alles immer ein anderes ist, wie überhaupt etwas da sein kann.
Rosa: Ja, das stimmt. Ich würde schon sagen, dass zwar alles irgendwie Werden ist. Aber ich würde mich selbst nicht als Werden bezeichnen.
Conny: Sondern?
Rosa: Das weiß ich nicht. Ich empfinde mich auf jeden Fall nicht als Werden.
Jan-Christoph: Das ist doch Scheiße, was du sagst, dass alles Werden ist, bloß du nicht.
Rosa: Ach wieso! Alles ist Werden, nur ich nicht.
Jan-Christoph: Du müsstest sagen: alles andere. Aber so meine ich das nicht. Wie kommst du dazu, dich rauszuhalten.
Anke: Du meinst, dass das Ich in aller Veränderung erhalten bleibt?
Rosa: Ja. Ach, ... was weiß ich ... in aller Veränderung.
Conny: Du bist kein haltungsloses Werden - alles andere schon, - sondern du bist du, du bist fest, unveränderlich, obwohl du auch immer eine andere bist.
Rosa: Naja, meinst du vielleicht! Aber ich habe nicht das Gefühl, dass ich mich in den letzten 15 Jahren verändert habe.
Anke: Für mich hast du dich aber in den 15 Jahren stark verändert.
Rosa: Ach! Vielleicht schon. Aber wenn ich mich total verändern würde, könnte ich nicht mehr ich sagen. Ich wäre dann in unendlich viele Iche zerrissen. Ich wäre gar nicht da.
Conny: Es ist also etwas Festes, Unveränderliches da, bei aller Veränderung, bei allem Werden.
Rosa: Naja, das kann angehen. Vielleicht ist alles wie bei unserem Glas, das trotz aller Veränderung immer ein Glas bleibt.
...

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