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Mit den Russen direkt konfrontiert erlebte ich mich nur ein einziges Mal.
Meine Mutter und ich waren gerade in der Parterre-Wohnung der Familie Kufall beschäftigt, als uns zwei Russen überraschend stellten. Wir waren im Wohnzimmer, an ein Abhauen war nicht mehr zu denken. Meine Mutter hatte an einer Stirnseite des großen Wohnzimmertisches gesessen; ich lief im Zimmer herum. Sie packte mich und presste mich mit einem mich schützenden Reflex an sich. Sie beurteilte die Situation richtig. Die Russen waren nicht hinter ihr her, sondern hinter mir. Meine Mutter entnahm es ihrer Haltung, ihren Blicken, ihren Hinweisen, den Gebärden, begleitet von dem immer wiederkehrenden Wort „Soldat". Ich spürte es nur über meine Mutter. Ich roch ihre Angst und ich spürte es daran, wie sie mich umklammerte und an ihre Brust drückte. Der Gedanke war mir klar, sie wollte mich nicht hergeben.
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Es behagte mir aber ganz und gar nicht, blind zu sein. Außerdem presste sie mich mit meinem Gesicht an sich. Ich wand mich in ihren Armen. Schließlich schaffte ich es, mich so weit zu drehen, dass ich die Russen sehen konnte. Beide hatten sich auf zwei Stühlen etwas entfernt von der anderen Stirnseite niedergelassen. Beide hatten ihre Maschinenpistolen auf dem Schoß. Die Läufe waren auf mich gerichtet. Der Blick des einen haftete wie versteinert auf mir. Es war ein kalter, berechnender, herrischer Blick. Solchen Leuten ging ich normalerweise aus dem Weg, sie waren mir unheimlich. An den anderen habe ich keine Erinnerung mehr, er schaute eher seinen Kameraden an als mich. Dabei redete er heftig auf den ersten ein. Zwischen beiden entspann sich eine längere, aufgeregte Debatte, wobei ich nur zwei Wörter verstand „Soldat" und „njet." Mir war klar, dass es um mich ging, und ich wusste auch sofort, dass die beiden keine für mich guten Absichten verfolgten. Meine Mutter wusste bereits damals sehr genau, dass die Russen die Häuser nicht nur nach Soldaten, sondern auch nach Jungen als potenzielle Soldaten durchsuchten. Sie hatte aber nicht im Traum daran gedacht, dass selbst Fünfjährige von ihnen aufs Korn genommen werden könnten. In dem Streit der beiden Soldaten ging es ihrer Meinung jedoch darum, ob ich als potenzieller Soldat und damit als gefährlich einzustufen sei. Es bemächtigte sie die Angst, die Russen könnten mich verschleppen oder gar Schlimmeres mit mir tun. Je länger die Debatte dauerte, desto stärker umklammerte mich meine Mutter und desto stärker wurde ihre Angst. Sie wurde schließlich steif und leblos. Ihr Blick, ein Unheil ahnend, blieb auf die beiden Männer gerichtet.
Ich erkannte genau, dass hier eine Sache auf Messers Schneide stand. Ich hatte lange genug Zeit gehabt, die Gefahr einzuschätzen. Ich entschied mich, meine Sache selbst in die Hand zu nehmen. Ich befreite mich aus der Umklammerung durch meine Mutter. Sie ließ es geschehen. Sie war nicht mehr in der Lage, gegen meine Unwilligkeit Widerstand zu leisten. Sie gab auf, und ich begann fröhlich auf die beiden Russen zuzugehen. Ich marschierte um den Tisch herum, so wie ich in Tuchel immer singend und in Soldatenmanier an der Kietsch entlanggezogen war. Ob ich damals in Friedenau gesungen habe, bin ich mir nicht mehr sicher, aber es könnte so gewesen sein. Jedenfalls versuchte ich, mit den Russen zu schäkern. Ich umkreiste den Tisch, lief dabei vor den Russen und hinter meiner Mutter vorbei. Wenn ich auf die Russen zulief, strahlte ich sie an und machte eine aufmunternde Bemerkung, wenn ich mich von ihnen entfernte, drehte ich immer meinen Kopf, um sie nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. Sie waren nicht zu erweichen. Sie stritten weiter. Besonders der „Unheimliche" beharrte auf seinem Ausdruck „Soldat.“ Vom anderen, der zuweilen einen Blick auf mich warf, hörte ich immer öfter und entschiedener „njet.“ Eine Runde nach der anderen legte ich zurück. Die Läufe der Maschinenpistolen folgten mir. Von wo aus ich auch meinen Blick auf die Russen warf, ich begegnete überall der dunklen Mündung ihrer Waffen. Je länger ich marschierte, desto größer schienen die schwarzen Löcher zu wachsen.
Die beiden Männer waren nur noch auf sich bezogen. Ihre Auseinandersetzung hatte sich verselbständigt.
Solange ich die Maschinenpistolen auf mich gerichtet sah, marschierte ich dagegen an. Sie besetzten meine ganze Aufmerksamkeit. Ich konnte nicht anders, als sie mir in allen Einzelheiten einzuprägen. Die Russen konnten sich nicht einigen. Sie gifteten sich an. Noch bevor sie unentschieden ihre Kontroverse aufgaben, senkten sie aber ihre Waffen, und ich wusste auf der Stelle: „Die Gefahr ist vorbei." Die Russen standen irgendwann unversöhnt miteinander auf und verließen ohne ein Wort für mich die Wohnung.
Mit meinem fröhlich Marschieren war es mit ihrem Abrücken sofort vorbei. Mit Ach und Krach hatte ich die „Prüfung" bestanden. Meine Beine waren weich wie Butter. Ich flüchtete mich wieder in die Arme meiner Mutter.
Das Nachspiel der Geschichte dauerte viele Jahre. Meine Mutter konnte es sich nicht verzeihen, dass sie mich zum „Marschieren“ freigegeben und mein aberwitziges Tun zugelassen hatte. Ich hingegen trumpfte auf mit der Ansicht, ich hätte die Russen damit an der Nase herumgeführt und geschafft.
Nun habe ich die Russen weder an der Nase herumgeführt noch sie geschafft. Sie haben sich selbst geschafft. Nach Jahrzehnten der Reflexion darüber stellt sich mir die Geschichte heute folgendermaßen dar.
Ich fühlte den Widerspruch genau, in dem die Russen zueinander verwickelt waren und ich ließ ihn bis zur Unversöhnlichkeit eskalieren. Der tote Verstand des einen, antifaschistisch – gleichwohl faschistisch, hart, männlich, sah in meinem Marschieren, in mir, nur den potenziellen Soldaten, den Militaristen. Er setzte diese eine Möglichkeit total. Der andere sah mein Marschieren, aber im Marschieren sah er auch den kleinen, sympathischen Knirps, der mit ihm spielen wollte. Sein vernünftiger, humaner, selbstreflektierter Standpunkt wurde herausgefordert und durch meine hartnäckigen Anbiederungsversuche verstärkt. Er konnte nicht mehr nachgeben, er hätte sich selbst aufgeben müssen.
Im Übrigen wurde er einer meiner Vorbilder, wenn es um die Frage ging, wie man seine Feinde zu betrachten habe.
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