Die Kehrseite der Medaille
Kinesis (Bewegung)
Hüsby - Ein Dorf erinnert sich
Sinn redet Unsinn
Die sieben Kreuze
Apokalypse
Nomen ipsum
Ruiniert
Der Anfang
Das Werden




Evakuiert


Leseprobe aus Ruiniert: S. 139-142

Wagner Verlag

ISBN 978-3-86683-489-7



An die Zeit in Tuchel habe ich eine beinahe vollständige Erinnerung, allein die chronologische Abfolge einzelner Geschehnisse und Ereignisse scheint mir wegen mangelnder zeitlicher Bezugspunkte wie zufällig zu sein. Ich erinnere mich an das Wetter, das bestimmte Ereignisse begleitete, ob die Sonne schien, ob es bewölkt, kalt oder warm war, dennoch weiß ich oft genug nicht, ob eine Begebenheit 1943 oder 1944 stattfand. Nur wenige „Zeitmarken“ sind eindeutig wie Weihnachten 1943/44, der Besuch meines Vaters im Frühjahr 1944 oder mein 5. Geburtstag .

Die Chronologie meiner Erlebnisse aus dem Jahre 1944 ist aus diesem Umstand heraus unzuverlässig. Geschichten, die ich im Folgenden im Winter angesiedelt habe, könnten tatsächlich erst im Sommer stattgefunden haben. Der Inhalt der Geschehnisse hingegen war nie zu widerlegen, obwohl ich oft die Authentizität bezweifelt habe.



Ich bin mir nur langsam bewusst geworden, dass hinter dem Leben in Tuchel immer auch Angst und Zweifel rumorten und Unglück immer bereit war, zum Sprung anzusetzen. Es war mir gleichwohl nie entgangen. Es gehörte zum Leben in Tuchel genauso wie schon zu dem in Berlin. Aber bewusst, richtig bewusst, als „Misthaufen“ in meinem Paradies, wurde es mir erst irgendwann 1944.

1944 war das Jahr meiner spontanen, eigenwilligen und unbedarften Unternehmungen. Wenn es mir einfiel, ging ich selbst auf eine Tramptour, nur um meine Mutter zu treffen, die bei einem Verwandten 10 oder 20 Kilometer entfernt zu Besuch war. Ich wurde ermahnt, mir wurden Auflagen erteilt. Drastischere Einschränkungen jedoch wurden mir nur auferlegt, wenn ruchbar wurde, dass ich bei meinem Tatendrang Familiengeheimnisse, die ich aufgeschnappt hatte, ausgeplaudert hatte.

Die Welt der Kinder war in meiner Kindheit von der der Erwachsenen deutlich getrennt. Vieles, was die Erwachsenen redeten, womit sie sich beschäftigten, was sie bewegte, ging uns Kinder nichts an, weil ein Wissen darum und ein öffentliches Gerede, so wurde uns gesagt, uns hätte gefährlich sein können. „Wenn ihr groß seid, werde ich es euch erzählen“, hörte ich oft von meiner Mutter. Wir Kinder wären nur zu gerne groß gewesen. Wir spitzten die Ohren und passten auf, um die geheimnisumwitterte Welt der Erwachsenen auszuspähen. Manch merkwürdiger Vorgang in Tuchel, viele Sorgen und Befürchtungen meiner Mutter und der Verwandten, die ich nicht wissen sollte, kamen mir so zu Ohren. Vieles verstand ich nicht, aber ich reimte mir eine Tucheler Wirklichkeit nach Art der Märchen zusammen. Es gab in Tuchel Hexen, Zauberer und Feen, Kobolde, die Heinzelmännchen, Helden und Schurken, den schwarzen Mann, den Teufel und seine Knechte, die aber hier bürgerliche Namen trugen. Für mich war Frau Mayer eine Hexe, Oma eine weise Zauberin, Helga unser Kindermädchen war eine Fee, wir Kinder waren die Heinzelmännchen. Zum großen Unglück gab es in Tuchel auch den schwarzen Mann und den Teufel mit seinen Knechten, ihr Name lautete: Gestapo! Um Gottes willen, nie darüber reden, sagte ich mir. Aber, ich gebe es zu, ich habe manchmal geplaudert, auch wenn es nur zu Udo war, dem ich ganz heimlich und nur im Vertrauen etwas zuflüsterte.

An einem trüben Tag im Frühling war ich mit Udo unterwegs. Wir kamen vom Bahnhof her und steuerten auf der linken Seite der Straße die Schwetzer Landstraße an. Da fiel es mir siedendheiß ein: „Vorsicht! Oh Gott, lass uns auf die andere Straßenseite gehen!“ Ich beugte mich zu Udo hinüber und flüsterte ihm zu: „Pst, sei leise, hier ist die Gestapo.“ Udo schien keine Ahnung zu haben. Er schaute sich um und versetzte mir sogleich einen Stoß, was so viel hieß wie: „Du spinnst!“ Aber meine Angst steckte ihn dennoch an. Beide schlichen wir weiter. Ich auf Zehenspitzen, die Hände und die Finger zur Seite gestreckt und den Kopf in den Schultern eingezogen. Wir passierten ein Gebäude, dem ein Vorgarten und eine Mauer, über die wir noch nicht blicken konnten, vorgelagert waren. Wir waren etwa bis zur Höhe des Eingangsportals vorangekommen, hatten einen freien Blick auf das Haus, als sich überraschend die Tür öffnete und ein Mann in einem dunklen, matt glänzenden Ledermantel und gleich hinter ihm ein zweiter ins Freie traten. Ich war starr vor Schreck, aber meine Beine setzten ihre Bewegung fort. „Der schwarze Mann! Der Teufel in Leder auf dem Weg uns abzuholen!“ Gleich geht die Welt unter! Ich packte Udo am Arm, blickte ostentativ nach vorne, obwohl mein innerer Blick nach hinten gerichtet war und langsam meinen Gang beschleunigend, aber immer noch auf Zehenspitzen, tack, tack, tack, bloß weg von hier. Keiner packte uns am Genick. Welch ein Glück! Wir entkamen.

Einen dunklen Ledermantel habe ich in meinem ganzen Leben nie mein eigen genannt. Allein die Vorstellung davon, einen zu besitzen, ließ mich schaudern. Ich vermochte auch kaum die Gegenwart eines lederbekleideten Freundes zu ertragen. Selbst schwarze Ledersessel standen nicht in meiner Gunst, und in ihnen zu sitzen, bereitet mir bis heute Unbehagen.

Was aber hatten wir Vierjährigen mit der Gestapo zu schaffen? Wer hatte mir von der Gestapo und ihrer Zentrale in der Stadt erzählt? – Ich weiß es nicht. Aber mit Sicherheit hatte es mit den Geschehnissen zu tun, die die ganze Familie im Winter 44 in helle Aufregung versetzte.

Weihnachten 1943 waren meine Mutter und mein Vater, der zu Besuch nach Tuchel gekommen war, zu einer Geburtstagsfeier bei meiner Tante Gerda eingeladen. Im Familien- und Freundeskreis wurde gefeiert. Es war eine fröhliche Runde, und weil alle sich gut kannten und einander vertrauten, wurde auch ohne Selbstzensur über die politische und militärische Lage diskutiert. Tuchel war eine Stadt der Ahnungslosen. In dem einzigen erhaltenen Brief meiner Mutter an meinen Vater aus dem Jahre 44 beschrieb sie die Situation sicherlich treffend mit dem Satz: „Es ist zum Verzweifeln, ich kann fragen, wen ich will, keiner weiß etwas.“ Mein Vater als Militär kam da wie gerufen. Er rückte die eine oder andere Meinung über die siegreiche deutsche Armee im ausgehenden Jahr 1943 zurecht. Dann begann er zu schimpfen, nannte die Ablösung des Oberbefehlshabers des Heeres von Brauchitsch einen „Husarenstreich“, den kleinen Gefreiten Adolf Hitler einen „absoluten Dilettanten“ und „kompletten Vollidioten“ in militärischen Angelegenheiten. Meine Mutter bekam einen Schreck. Sie befürchtete, dass er Hitler, wie er es ihr gegenüber bereits getan hatte, als Verbrecher bezeichnen könne, der weg müsse. Sie besänftigte ihn so weit, dass die weitere Unterhaltung des Abends in ruhigen Bahnen verlief. Die Ausfälle meines Vaters schienen vergessen.

Bei der Feier war die beste Freundin Tante Gerdas anwesend. Sie hatte nichts vergessen. Sie war aufgewühlt. Sie machte sich noch während des folgenden Tages zu einer anderen Freundin auf, um von dem Gespräch zu berichten. Diese wiederum hatte nichts Besseres zu tun, als die ganze Gesellschaft und als Einzelperson meinen Vater anzuzeigen, was umgehend dazu führte, dass meine Tante, die Frau eines SS Angehörigen, und ihre beste Freundin von der Gestapo verhaftet wurden und mein Vater eine Anklage wegen Zersetzung der Wehrkraft erhielt. Tante Gerda und ihre Freundin wurden verhört. Ihnen wurde das Hören von Feindsendern und die Verbreitung von Falschmeldungen vorgeworfen. Als sie nichts zugaben, wurden sie gefoltert. Beide Frauen blieben standhaft, sie gestanden nichts, aber Tante Gerda erlitt einen Nervenzusammenbruch. Nachdem für die Gestapo wohl feststand, dass von den Frauen nichts zu holen war, mussten letztere eine Erklärung unterschreiben, über die Behandlung durch die Gestapo Stillschweigen zu bewahren. Erst danach wurden sie entlassen. Die Anklage gegen meinen Vater wurde aufrechterhalten. Die richterliche Voruntersuchung, die meiner Mutter und meinem Vater mehr als eine schlaflose Nacht bescherte, fand in Bromberg statt.

Das Gespenst der Sippenhaft schwebte über uns. Ich war zwar abgeschirmt, hatte keine Vorstellung von den Schwierigkeiten, in denen mein Vater steckte, und von der Gefahr. Aber ich spürte eine seltsame Hektik und Unruhe, eine undefinierbare Bedrohung, die sich erst auflöste, als meine Mutter mit mir zu reisen begann.

Meine Mutter hatte sich mit ihren Eltern beraten. Gemeinsam hatten sie beschlossen, den Einfluss und die Ressourcen der Sippe zur Geltung zu bringen. Bromberg war nicht weit, der Untersuchungsrichter bekannt, man war unter sich. Der Richter sollte mit Nahrungsmitteln bestochen werden, um meinen Vater vom Vorwurf der Wehrkraftzersetzung freizusprechen.

Die Sippe hielt zusammen und absolut dicht. Mit Selbstverständlichkeit trug jeder sein Scherflein dazu bei, das Bestechungsgut zu vergrößern. Um Eier, Mehl, Butter, Schinken und Speck einzusammeln, fuhr meine Mutter übers Land zu den Verwandten. Mich, weil ich noch nicht schulpflichtig war, nahm sie mit.

Wir kamen zu Verwandten, die in Hütten lebten und solchen, die in Herrenhäusern mit Sälen und blank gewienerten Fußböden residierten. Überall wurden wir mit offenen Armen empfangen und kaum einer ließ uns wieder mit leeren Händen ziehen. Die relativ Armen knauserten nie, die Reichen auch nur gelegentlich und dann, weil sie selbst nichts hatten, wie sie erklärten.

Ein Besuch, der mich heute noch bewegt, führte uns bei strömendem Regen in ein kleines Dorf zu Idel, einer Cousine meiner Mutter. Die Straße war ungepflastert, wir mussten uns unseren Weg durch tiefen Unrat und Modder bahnen, bis wir an eine kleine Behausung kamen, direkt neben den tief eingegrabenen Fahrspuren.

Idel empfing uns, sie umarmte uns und wollte weder meine Mutter noch mich loslassen. Wir saßen neben der mächtigen Feuerstelle in der Wohnküche. Das Feuer aus dem Herd schlug hoch, Idel hantierte mit zwei kolossalen Pfannen. Sie briet Griebenschmalz. Es rußte fürchterlich, aber roch gut. Ich bekam meine erste Schmalzbemme und Idel sorgte, ich hatte noch nicht aufgegessen, prompt für die nächste. Sie freute sich, dass es mir schmeckte. Sie rückte mir den Teller zurecht, lachte mir aufmunternd zu, aber dabei kullerten ihr unaufhörlich große Tränen über die Wangen. Hin- und hergerissen zwischen Freude und Trauer. Ihr Mann war Soldat an der Ost-Front. Seit Wochen war er in Finnland vermisst. – Das war der Krieg! Und ich, der Dreikäsehoch, wusste in diesem Moment, was er anrichten konnte. Das bitterliche Weinen eines Erwachsenen, der zugleich noch ein Lächeln für mich übrig hatte und für mein Wohlergehen sorgte, war die größte menschliche Regung, deren Zeuge ich in Tuchel wurde. – Tante Idel habe ich nie mehr gesehen. Seit Januar 45 ist sie vermisst.

Die Hauptverhandlung vor dem Zentralgericht des Heeres in Berlin gegen meinen Vater fand am 06.06.1944 statt. Das Gericht schloss sich den Vorgaben der Voruntersuchung und denen des bestochenen Richters in Bromberg an, dass es nicht mehr feststellbar sei, was auf der Feier tatsächlich gesagt worden war. Für das Gericht waren die Bemerkungen meines Vaters ein Gerücht, das im Sinne eines Hausfrauen-Geschwätzes zu werten sei. Mangels Beweises wurde er freigesprochen.

nach oben ...




Druckbare Version


Die Russen kommen