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Hüsby - Ein Dorf erinnert sich
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Nomen ipsum
Ruiniert
Der Anfang
Das Werden




Ihr Völker der Welt


Leseprobe aus Ruiniert: S. 139-142

Wagner Verlag

ISBN 978-3-86683-489-7





Drei Jahre hatten wir überlebt, jeder für sich, ohne inneren und äußeren Halt und ohne Haltung. Dennoch hatte jeder, der durchgehalten hatte, sich auch auf seine Weise arrangiert. Das Rattenleben hätte so weiter gehen können.

Am 24. Juni 1948 begann die Blockade Westberlins.



Wir waren erneut zurückgeworfen, standen wieder an der Front oder mit dem Rücken zur Wand wie 1945. Aber das Zurück war keines in den gleichen Anfang. Wir wurden wieder bedrängt, belagert, ausgehungert; wir litten extreme Not, Dunkelheit, Kälte, aber wir waren wieder wir, das eine Volk von Berlin. Über Nacht waren wir uns nicht nur wieder einig, sondern eine Einheit. Unsere Atomisierung in unverbundene Individuen ohne Gleichheit und Brüderlichkeit warfen wir ab.

Durch die Blockierung Berlins fanden wir wieder zusammen und standen Hand in Hand. Dass dies nicht äußerlich blieb, sondern als denkende Beziehung, als Sich-Selbst-Denken oder als Selbstbewusstsein zu unserer inneren Wahrheit und von uns auch ausgesprochen werden konnte, ist das Verdienst eines einzigen Mannes, Ernst Reuter.

„Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!"

Es war die großartigste Rede, die ich während meines ganzen Lebens je aus dem Munde eines deutschen Politikers gehört habe. Sie war nicht großartig wegen ihrer besonderen Inhalte, ihres intellektuellen Anspruchs oder wegen ihrer rhetorischen Raffinesse, sondern allein deswegen, weil sie wie keine andere uns Berlinern aus dem Herzen, aus der Seele gesprochen war. Nie später in der deutschen Nachkriegsgeschichte war in einer Rede das Verhältnis zwischen politischer Führung und Volk so vollkommen ausgeglichen wie in der Ernst Reuters vor dem Deutschen Reichstag am 9. September 1948. Wir hörten Ernst Reuter, aber wir hörten auch uns selbst. Wir, das Volk von Berlin, sprachen, hatten gesprochen. Ernst Reuter wurde, was nur ein wahrhafter politischer Führer wirklich fertig bringen kann, unser Selbst. Er schüttete keinen Kübel hohlen Geredes wie von einem äonenweiten, fremden und toten Stern über uns aus. Vor hilfloser Wut brauchten wir nicht „politverdrossen" in uns zu gehen oder autoaggressiv die Haare zu raufen. Er propagierte keinen „nationalen Aktionsplan", forderte keine „nationale Kraftanstrengung" – wir hätten ihn ausgelacht.

„Mit ihm oder durch ihn standen wir, das standhafte Volk von Berlin, auf, taten unsere Pflicht und versprachen unsere Pflicht weiter zu tun. In dem stolzen Bewusstsein, dass wir in Kümmernissen und Nöten, in Mühsal und Elend den Tag, an dem die Macht der Finsternis zerbrochen und zerschlagen sein würde, selbst herbeiführen werden, forderten wir die Welt auf, auch ihre Pflicht zu tun und ihre und unsere Zukunft durch das unzerstörbare Einstehen für die gemeinsamen Ideale zu sichern."

Und die Völker der Welt verloren ihr Gesicht nicht, sie taten ihre Pflicht. Allen voran Amerika.

In unserer Familie waren wir alle wie elektrisiert. Wir waren wieder verbunden mit den Friedenauern, Berlinern, Deutschen. Wir wollten das Elend und den Mangel, die Mühe und die Last, die uns auferlegte Bürde gemeinsam mit allen frohen Mutes tragen. Das Gefühl der Verbundenheit beflügelte uns.

Die Hilfe der Westalliierten durch die Luftbrücke tat ein Übriges, denn das Herr-Knecht-Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten begann zu bröckeln. Bis zur Blockade fühlten wir uns, wie sich die in Reservate gepferchte Urbevölkerung Amerikas gefühlt haben muss, die, gebrochen an Leib und Seele, von einer ohnmächtigen Selbstverwaltung beschwichtigt, ein kümmerliches Leben fristen musste. Über unser Schicksal wurde gewürfelt. Wir duckten uns und erzitterten wie vor dem „Zorn des Herrn". Unsere Angst saß uns in den Knochen. Durch die Blockade entstand auf unserer Seite Dankbarkeit, auf Seiten der Alliierten eine gewisse Sympathie, ein Hinwenden und ein Mitleiden. Freundschaftliche Gefühle keimten auf und entwickelten sich voll in den folgenden Jahren. Nur die zersetzende Angst blieb, latent gleichwohl, aber ubiquitär.

Zu Beginn der Blockade, drei Monate vor der gedenkwürdigen Rede Ernst Reuters, beurteilten wir unsere Lage als ausweglos. Wir saßen in der Falle, der Hahn war zugedreht, die Luftbrücke erst im Aufbau und unsere eingeflogenen Nahrungsmittel waren unter dem Minimum des damals üblichen und miserabel.

Alles war trocken: Das Mehl, die Nudeln, die Erbsen, die Graupen, selbst die Kartoffeln. Als Trockenkartoffeln, dem Aussehen nach wie Pommes frites, nur eben getrocknet, wurden sie mit den Flugzeugen in Säcken nach Berlin transportiert. Keine erstklassige Ware. Mindere Qualität, voll schwarzer Stellen, mit Schale und manchmal sogar sandig. Aber sie waren essbar. In Molke, die wir ohne Marken häufig reichlich kaufen konnten, weil sie sonst keiner haben wollte, gekocht, avancierten sie zu einer leckeren Speise. Einige Male waren sie ungenießbar. Sie schmeckten so intensiv nach Petroleum, dass wir würgen mussten und sie nicht hinunter bekamen.

Für unsere gewohnten Nahrungsmittel gab es allerlei Ersatz: Pasten, Pulver, Flüssigkeiten. Sofern dieses Zeug auf Marken zu erhalten war, konnten wir davon ausgehen, dass es zumindest nahrhaft war. Die Heringspaste, die ich bereits mehrfach erwähnt habe, gehörte dazu. Wir waren der Meinung, dass bei der Herstellung lediglich die Heringsköpfe sowie alle Innereien verarbeitet worden waren. Sie war vor allem salzig, schmeckte sonst tatsächlich nach Fisch. Wir redeten uns ein, einen leckeren Brotaufstrich genießen zu können.

Während der ganzen Blockade erhielten wir Erbsen-Suppenpulver pfundweise, allerdings kontingentiert. Mit Wasser gekocht wurde die Erbsensuppe aus der Tüte unser mittägliches Standardgericht mit einigen Scheiben trockenen Brotes dazu. Das Erbsenpulver hatte sicher etwas mit Erbsen zu tun. Es schmeckte nach Erbsen und sättigte auch. Da die Erbsensuppe aber auch sandig war und beim Essen immer in der Kehle kratzte, vermuteten wir, dass auch unverdauliche Zutaten wie vielleicht zerstampfte Pappe hinzugefügt worden sein musste.

Neben den Ersatzlebensmitteln auf Marken gab es solche auch für den freien Markt. Sie waren nun freilich tatsächlich nur ein Ersatz. Sie schmeckten zwar manchmal, aber es war immer zweifelhaft, ob sie nahrhaft und bekömmlich waren. Als besonderer Clou wurde gegen Ende der Blockade eine Wunderspeise aus der Tüte und eine Wunderschlagcreme aus der Flasche angepriesen. Die pulvrige Wunderspeise war eine klebrige, kleiige Masse, die unangenehm süß schmeckte, leicht bitter war und einen Brechreiz provozierte. Es ließ sich davon immer nur wenig essen, und der Hunger wurde dabei auch nicht gestillt. Die Schlagcreme war nun wirklich ein Mirakel. Wir kauften sie in einem kleinen Laden in der Saarstraße und füllten sie zu Hause in eine Schüssel. Nach kurzem Schlagen der Flüssigkeit konnte der Behälter den entstandenen Schaum nicht mehr fassen, das Zeug quoll endlos über. Als der verbliebene Rest nach längerem Schlagen etwa die Konsistenz von Eischaum hatte, probierten wir das Wunder. Giftig süß. Zwei Teelöffel voll und wir eilten alle drei, meine Mutter, mein Bruder Achim und ich ins Bad, um uns zu übergeben.

Wir waren von da ab kuriert, verzichteten auf weitere Experimente mit der markenfreien Ersatznahrung.

In vielem ähnelte die Situation in der Blockade der kurz nach dem Krieg. Unsere Rationen waren Hungerrationen, die es galt, exakt einzuteilen, denn sie reichten immer nur von einem Tag zum anderen. Aßen wir nur an einem Tag eine geringe Menge mehr, als es unsere Markenzuteilungen vorsahen, knurrte uns am folgenden Tag mit Sicherheit der Magen. Einen Rückgriff auf Vorräte oder andere Quellen, die eine Lücke in unserer Versorgung hätten ausgleichen können, hatten wir oft wochenlang nicht.

Während der Blockade rückten die Handwerker an, um in unserer Wohnung Kriegsschäden zu beseitigen, vier Leute, die wir zu beköstigen hatten. Uns schwindelte. Die Hauseigentümerin hatte, um das Haus wieder in Stand zu setzen, den Handwerkern vertraglich zusichern müssen, sie während ihrer Arbeit in den Wohnungen zu beköstigen. Da die Wirtin aber selbst dazu keine Möglichkeiten hatte, wälzte sie ihre Verpflichtung auf die Mieter ab. Vier Handwerker arbeiteten bei uns, vier neue Münder galt es satt zu machen. In unserer Not nicht realisierbar. Wir hatten absolut nichts zuzusetzen. Was sollten wir tun? Wir konnten nur unsere Rationen versuchen bis zum Äußersten zu strecken.

Wenn ich während der Renovierungsarbeiten aus der Schule kam, gab es nicht das erwartete Mittagessen. Dafür saßen die Handwerker an unserem Küchentisch und erhielten von meiner Mutter unsere Tütensuppen serviert, dazu einige Stullen Brot. Währenddessen schritt ich im Korridor auf und ab und warf jedes Mal, wenn ich die Küchentür passierte, sehnsuchtsvolle Blicke auf den Suppentopf in der Hoffnung, ein kleiner Rest würde noch für uns übrig bleiben. Die Handwerker verspeisten ungerührt unser Essen. Wir guckten zu. Waren sie fertig, erhielten wir das, was meine Mutter von der Mahlzeit hatte abzweigen können.


Anderthalb Wochen schafften wir es, die Versorgung der Arbeiter und auch unsere mit Ach und Krach über die Bühne zu bringen. Dann aber kam unausweichlich der Tag, an dem nur noch die Handwerker beköstigt werden konnten und wir leer ausgingen. Die Marken für eine Dekade waren nach sieben Tagen etwa zu Ende gegangen. Drei Tage mussten wir auf die nächsten Markenzuteilungen warten und hatten in dieser Zeit für uns nichts mehr. Alles war leer. Die Dramatik hatte sich für uns alle bewusst entfaltet. Die Aussichtslosigkeit unserer Anstrengungen war uns von Beginn an klar gewesen, aber uns war absolut nichts eingefallen, um das nahe Ende abwenden zu können. Wir machten einfach weiter, verharrten wie gelähmt ohne Widerstand, ohne Hoffnung, als wäre unser Schafott längst aufgerichtet und unser Gang zur Schlachtbank unabänderliche Realität.

Es war am ersten Nachmittag der Tage der leeren Töpfe (für uns). Ich kam von der Straße und steuerte in die Küche, wo meine Mutter am Hantieren war. Ihr Gesicht war wie versteinert. Etwas ganz Schlimmes musste geschehen sein. Ich versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, wendete mich ab. Plötzlich verzog meine Mutter ihr Gesicht und rannte aus der Küche über den Flur ins Wohnzimmer. Ganz behutsam und sachte, auch ängstlich folgte ich ihr einen Augenblick später. Ich blickte vorsichtig um die Tür ins Wohnzimmer. Dort lehnte meine Mutter am Ofen und schluchzte. Kein theatralisches Klagen, kein Jammern. Sie weinte, wimmerte. Mir wurde es klamm ums Herz. Noch nie hatte ich meine Mutter weinen gesehen. „Was hatte ich nur wieder Böses angestellt? – Scheiße"“. Ich konnte mich nicht erinnern. Ganz vorsichtig, lammfromm, fast flüsternd fragte ich: „Mammi, was ist denn passiert?" „Ach, nichts." Aber ich ignorierte ihre Antwort und hob erneut an: „Mammi, was ist bloß los mit dir?“ Da brach es unter Tränen hervor: „Ich habe für euch nichts mehr zum Essen.“ – Pause. – „Ich weiß weder ein noch aus. ... Dabei habe ich bei meinem Leben versprochen, euch durchzubringen.“ Ein Riesenstein fiel mir vom Herzen. Nicht meinetwegen war sie bekümmert. Wie befreit atmete ich auf. Welche Chance bot sich mir. Ich konnte meine Mutter, die immer nur uns Kinder getröstet hatte, jetzt trösten. „Ach, das ist es Mammi. Da brauchst du überhaupt nicht zu weinen. Die drei Tage bis zum Ende der Dekade schaffen wir doch alle ganz leicht. Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Und guck mal, ich kann immer noch abnehmen. Die sagen doch, ich bin fett genug.“ – Achim war hinzugekommen. Gemeinsam versuchten wir, sie zu trösten. Wir spielten die Notlage herunter. Das Komische war, meine Mutter ließ sich trösten. Sie begann wieder zu lachen. Ich sagte mir: „Vielleicht hatte sie nur hören wollen, dass wir ihr keine Vorwürfe machen."

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Vor dem Stacheldraht der Amerikaner Die apokalyptischen Reiter