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Von den apokalyptische Reitern, die uns in den Nachkriegsjahren heimsuchten, war der Hunger der schrecklichste. Er verpestete alles: unser Empfinden, Gefühl, Denken, unser Handeln.
Es war egal, wie wir satt wurden, es war selbst egal, ob wir überhaupt satt wurden. Wir gierten nur danach, nicht zu verhungern. Wir hatten Hunger. Das war eine Tatsache, die über uns verhängt worden war. So war das Leben. Aber, womit wir uns nicht versöhnten, war der Hungertod vor Augen.
Wir sind immer hungrig ins Bett gegangen und hungrig aufgewacht. Selbst die drei Mahlzeiten am Tage sättigten nur, solange wir aßen. Wir schoben vier Jahre lang Kohldampf.
Unser Kalender wurde in Dekaden eingeteilt, nach denen wir unsere Lebensmittelmarken einlösten. Der erste Tag der Dekade war das Dekadenfest, herbeigesehnt wie sonst nie ein Sonntag. Während der Blockade wurde noch ein Zahn zugelegt, die Rationen gestreckt. An manchen Tagen stiegen mir die Tränen hoch, aber vor Hunger habe ich nie wirklich geweint.
Ich muss es meiner Mutter als Verdienst anrechnen, dass wir die vier Jahre nicht nur bloß durchgehalten haben. Sie hat es hervorragend geschafft, ihre Familie über die endlos quälenden Runden zu retten. Während bei unserer Bekleidung meine Mutter ihre Professionalität und Kreativität auslebte, konnte sie auf dem Gebiet der Ernährung, auf dem sie eine Dilettantin war, nur auf ihre Erfahrung und ihren Einfallsreichtum zurückgreifen.
Sie hatte in ihrem Leben Not in unterschiedlichsten Formen kennengelernt. Die Inflationszeit und die wirtschaftlichen Krisen nach dem Ersten Weltkrieg hatten sie gelehrt, mit Mangel umzugehen. In erster Linie aber griff sie auf ihre Erfahrungen als Kind und Jugendliche zurück. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte sie mit ihrer Familie in ihrer Heimat in Westpreußen sparsam und bescheiden gelebt. „Jeder Sechser wurde bei uns zwei- und dreimal umgedreht und dann verschwand er eher noch im Sparbeutel, als dass er ausgegeben wurde. Wir hätten es sonst nie zu was gebracht." Und sie hatte das kümmerliche Leben der Landarbeiter und Handwerker in den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende mit eigenen Augen gesehen. „Eine Mark pro Tag erhielt der Jude Schuster, unser Knecht. Damit musste er sich, seine Frau und sechs Kinder durchbringen. Und ihm ging es noch gut. Andere hatten gar nichts. Sie lebten von der Hand in den Mund und sind doch durchgekommen.“ Wenn wir Kinder über unsere geringen Rationen murrten und die Flinte ins Korn werfen wollten, weil wir keine Aussicht auf Besserung unserer Situation mehr hatten, tadelte und tröstete sie uns zugleich: „Beklagt euch nicht, wir werden es wie die armen Schuster in Tuchel machen, die sich mit ihren Familien noch an einem einzigen Heringsschwanz satt gegessen haben."
Die Kompassnadel, nach der meine Mutter sich orientierte, wies in Richtung Improvisation, Nutzbarmachung „unbekannter Ressourcen" und Leidensbereitschaft. Wenn sie uns Gerichte mit Nahrungsmitteln servierte, die andere verschmähten, konnte sie verschmizt lachen und uns versichern: „Das ist zwar Schweinefutter, aber was für Schweine gut ist, ist, wie ihr seht, auch für uns Menschen nicht unbedingt schlecht." Wir waren es zufrieden und ließen uns sogar von ihrem Optimismus anstecken, wenn sie verkündete: „Geht es hart auf hart, müssen wir hungern, dass die Schwarte kracht, werde ich beweisen, dass unsere ganze Familie von einer einzigen Speckschwarte noch fett wird."
Wir haben alles ausprobiert, was auch nur entfernt essbar zu sein schien. Selbst Unkräuter bereicherten unsere Tafel. Brennnessel oder Löwenzahn standen damals hoch im Kurs. Sie galten als Delikatesse. Kastanien, Eicheln, Bucheckern sollten unseren Speiseplan bereichern. Wir probierten sie roh, zerstampften sie, kochten sie und rösteten sie. Wir versuchten sie als Suppengemüse oder als Kaffeeersatz. Wir spuckten. Alles ungenießbar, vielleicht von den Bucheckern abgesehen (von denen wir nie genug hatten). Für manches, was an sich verträglich ist, konnten wir uns nicht erwärmen wie für die Holunderbeeren, die jeden Sommer vor unserem Haus an prächtigen Dolden gediehen. Keiner schien sie ernten zu wollen, bis wir sie uns im Sommer 48 pflückten. Wir kochten sie und tranken den schwarzen Holunderbeerensaft. Aber er schmeckte uns nicht und ich übergab mich. Wie unsere Nachbarn kamen wir zu der Überzeugung, dass Holunderbeeren unbekömmlich seien.
Weil es in den Nachkriegsjahren, um nicht unterzugehen, immer darauf ankam, die katastrophalen Umstände zuzulassen, um sich darüber erheben zu können, besteht leicht die Tendenz in einer darstellenden Hervorbringung der damaligen Verhältnisse, diese Seite des Sich-Erhebens und der Bewältigung als das Wesentliche hervorzuheben und sie für die ganze Sache zu nehmen. Das Grauenvolle an den objektiven Gegebenheiten sowie ihre verheerenden Auswirkungen auf das Leben und Tun der Menschen werden dabei freilich nur allzu willig bagatellisiert oder ganz vergessen. Dieser Drang zu einer euphemistischen Darstellung entspricht gewiss dem allgemeinen menschlichen Hang, Unangenehmes oder Schreckliches, das uns widerfahren ist oder das uns als unser Tun anrechenbar ist, aus unserem Gedächtnis zu verbannen.
Der Berliner, der heute in Vergegenwärtigung der Nachkriegsjahre sagt: „Wir haben alles gemeistert, wir haben die Stadt wieder aufgebaut", hat menschlich gesprochen ohne Zweifel recht. Aber die ganze Wahrheit spricht er nicht aus; er verbirgt sie. Sein Urteil bleibt unvollkommen. Er täte gut daran, vielleicht hinzuzufügen: „Es war schrecklich, und der Schrecken sitzt mir seit 60 Jahren in den Knochen. Aber wir konnten ihn erleiden, wir kamen durch, wir haben ihn gemeistert, und das war auch schön."
Mir fällt in der Rückschau vor allem der Schmerz ein. Kein Empfinden schmerzt mehr als der Hunger, kein Gefühl mehr als die Angst. Wir hatten von beidem genug. Beides schwebte wie ein Damoklesschwert über uns, es bohrte und zerfraß unsere Eingeweide. Hunger, Hunger und nochmals Hunger und Angst: Angst vor dem Leben, dem Heute und Morgen, Angst vor den Mitmenschen, Angst vor den Kommunisten, Angst vor den Russen, Angst vor den anderen Besatzern, vor ihrer Willkür und Unberechenbarkeit, Angst vor dem Abgeholt-Werden. Ich traf genügend Menschen, Kinder wie Erwachsene, die nur noch klagten und jammerten und einknickten. Andere Berliner wie wir, meine Familie, jedoch entwickelten eine verbissene Widerstandskraft und einen hartnäckigen Optimismus, der, nicht allzu weit von Zynismus entfernt, sich nur zu oft in Schnoddrigkeit äußerte. Wir wussten uns zu helfen. Wir träumten vom Essen, wir redeten vom Essen und schmiedeten Pläne, uns etwas zum Essen zu beschaffen. Und wir machten uns auf die Beine, nahmen teil an der Beschaffungskriminalität en masse, stürzten uns ins brodelnde Berlin, diesen krabbelnden Ameisenhaufen zu Fuß. ...
Der Hunger und die Gier nach etwas Essbarem brachte uns wie alle anderen Berliner auf Trab, aber er ließ auch alle Umgangsformen, jeden Anstand und außerhalb der Familie jede soziale Anteilnahme an der Not eines anderen stocken und ersterben. Wer zeigte noch Mitleid mit dem anderen, selbst wenn diesem die Tränen des Hungers über das Gesicht rannen. Wer wandte seinen Blick nicht ab, wenn den elenden Gestalten, den Männern und Frauen, bei einer Kontrolle die kärgliche Ausbeute einer mühevollen Hamsterfahrt aus der Tasche geraubt wurde. Wer freute sich nicht, wenn ein anderer auf der Strecke blieb und einem dadurch die Möglichkeit bot, auf seine Kosten durchzukommen?
Nach dem Krieg waren wir wie in einem Schwarzen Loch zusammengepresst worden und dennoch waren wir in alle Winde zerstreut. Nicht einmal die gemeinsame Bedürfnisbefriedigung verband uns.
Es gab eine äußere Ordnung, herbeigeführt durch das Besatzungsrecht, durch zahlreiche Bestimmungen der Behörden und durch die tradierten Gesetze, soweit sie nicht außer Kraft gesetzt worden waren. Wir hatten auch unsere Werte nicht verloren, sie aber zu einem Wertechaos gewissermaßen privatisiert. Dadurch unterliefen wir in Wahrheit die äußere Ordnung, und es herrschte unter ihrer dünnen Decke allein das moralische Gesetz in uns, das subjektive Gewissen, das Gefühl oder die Willkür in der Form des Rechts des Stärkeren.
Nur in den Familien sah es anders aus. Unsere Familie z. B. hatte das Bewusstsein ihrer Gemeinsamkeit, ihrer Einheit nicht verloren. Die gegenseitige Anteilnahme, Rücksicht und Hilfsbereitschaft war nicht zum Erliegen gekommen. Es herrschte zwar nicht das formale Recht, nicht die Moral oder die Sittlichkeit, wohl aber herrschten einfache Grundsätze wie die goldenen Regeln des Pythagoras oder die Zehn Gebote, die ich bereits damals alle auswendig kannte.
Um meine Angehörigen war ich mindestens genauso besorgt wie um mich. Wenn ich mich um meinen kleinen Bruder Reini kümmerte, der mir häufig anvertraut war, wenn ich ihn intensiv umhegte, ja sogar bemutterte, wenn ich mit ihm meine Stulle Brot teilte, fühlte ich immer eine tiefe Befriedigung, die aus der Freiheit meines Gebens hervorging. Aber ich gebe zu, oft genug drängten sich neben das Gefühl der Fürsorge und des Mitempfindens diesem widersprechende Gedanken. „Warum geb ich dem Drecksack eigentlich überhaupt was ab. Der wird als Kleener jenug vorjezogen.“ War ich ein schlechter Mensch?
Alles in allem, auch wir waren nicht frei von der allgemeinen Verrohung, selbst wenn sie sich fast immer nur oberflächlich in dem Verlust der Schicklichkeit äußerte.
In Tuchel hatten wir bürgerlich und gesittet unsere Mahlzeiten im Esszimmer eingenommen. Der Tisch war immer schön gedeckt, wir warteten, bis wir gemeinsam die Mahlzeit beginnen konnten, wir hoben die Tafel gemeinsam auf. Nach dem Krieg saßen wir in der Küche an einem rohen Tisch ohne Tischdecke, vor uns zusammengewürfeltes Geschirr und Besteck. Unsere Gier nach Essen ließ uns allzu oft das erst halbgare Gericht von der Feuerstelle zerren. Dann schlangen wir es „super al dente“ hinunter. Wir konnten nicht warten. Reini trampelte mit den Füßen und schrie, ich desgleichen. Erwischte ich ein Stück Brot, schluckte ich es sofort ohne Kauen hinunter. Ich wurde zum „Würger der Rembrandtstraße". Meine Brüder belauerte ich. Manchmal trieb mich der Impuls, meinem Bruder Reini den Bissen aus dem Mund zu pressen. Meine Mutter bannte mich mit ihrem Blick. Wir griffen ungehemmt zu, sobald etwas Essbares auf unserem Teller lag, um unsere Zuteilung zu sichern und unseren Hunger auf der Stelle zu stillen. Wir waren dauernd in Hast und griffen mit den Händen zu, wo immer es ging. „Ihr sollt warten, verflixt noch mal!" schimpfte meine Mutter! Um aber im gleichen Atemzug und augenzwinkernd hinzufügen: „Jesus speiste die Armen und sprach zu seinen Jüngern, wer keine Gabel hat, muss fingern.“ Allzu oft standen wir Geschwister uns feindlich gegenüber. Jeder achtete auf seinen Vorteil und empörte sich über den seines Bruders. Meine Brüder waren in derartigen Situationen meine unmittelbaren Rivalen, an die ich nur etwas abgab, weil ich es abgeben musste, weil es die Familiengerechtigkeit gebot.
Bei jeder Gelegenheit erhob sich unsere Forderung: „Wir haben Hunger, wir haben Hunger, wir wollen was haben!" Haben wollen war nicht nur eine Allüre, sondern eine uns beherrschende Haltung, die sich erst wieder allmählich in eine des Gebens und Teilens zurückwandelte.
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