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Ich lebte in einem Gemeinwesen, in dem das Elend Regie führte, in dem Sicherheit und Geborgenheit allein in der Familie zu finden waren. Aber altersentsprechend trat ich aus den engen familiären Banden, aus dem Schutz in die Öffentlichkeit des Gemeinwesens hinaus, wo ich dem Zeitgeist begegnete.
Er war zerfallen in zwei Geister. Den neuen Geist, den die Fremden uns anboten und aufzwangen und den „eigentlichen" Volksgeist.
Der neue Geist wiederum zerfiel in den sowjetischen und westalliierten. Neben den offensichtlichen inhaltlichen Unterschieden kontrastierten beide durch den Grad des Terrors, mit dem sie an uns gebracht wurden und suchten, sich allgemeine Geltung zu verschaffen. Ihre wesentliche Gemeinsamkeit bestand in der Überzeugung der Besatzer West wie Ost, unseren Geist als verbrecherisch zu verbieten, zu vertilgen und zu begraben,
Dem neuen Geist, der in Deutschland von der jeweiligen Besatzungsmacht ihrer deutschen Verwaltung, den zugelassenen Kulturschaffenden und den Medien verordnet war und von letzteren propagiert wurde, begegnete ich in den 40er Jahren selten direkt. Presse und Rundfunk waren für mich noch weitgehend unzugänglich. Nur vermittelt durch meine Mutter, die Nachbarn, durch meine Freunde und das Volk auf der Straße kam mir der neue Geist der Besatzer durch Hörensagen zu Ohren.
Die Beziehung des Volkes zum neuen Geist drückte sich damals eigentümlich aber treffend in einem einzigen Wort aus: Die. „Die sagen jetzt, die wollen, die denken ... wir sind alle Verbrecher, alles war böse und schlecht. Die diktieren und wir dürfen nicht einmal piep sagen."
Für das Volk trat sich in den Medien (Presse, Rundfunk) nicht das Volk selbst gegenüber, sondern die Besatzer mit ihren zensierten Mitarbeitern dem Volk. Nie habe ich mehr Verachtung für die Presse erlebt als damals. „Sie hat die Wahrheit für sich zu Unrecht gepachtet. Lüge, Lüge, nichts als Lüge! Wir sind jetzt nur noch Ungeist und Menschen, wenn wir unsere Gesinnung wie ein Hemd wechseln. Infam!" Die Zeitungen waren die „Scheißpresse", nur noch tauglich zum Arsch abwischen.
Dennoch, das Volk war verbissen in eine jahrelange Auseinandersetzung mit dem neuen Geist, so sehr dieser auch kränkte, demütigte und beleidigte, bis schließlich der neue Geist ein Teil des Volksgeistes geworden war. Es konnte nicht anders sein.
Ich erfuhr den Geist des Volkes als in sich gebrochen. Nie traf ich einen Menschen, der nicht den neuen Geist als einen ihm selbst widersprechenden in sich trug. Selbst die „ewig Gestrigen“ und die „verstockten“ Nazis hatten ihn an sich, was sich oft nur dadurch äußerte, dass sie in ihrer abwehrenden Polemik ständig auf ihn bezogen waren. Die Siegesfanfaren der Besatzer hatten jeden Deutschen erzittern lassen und wenn er nicht das Urteil: „Du bist der größte Verbrecher aller Zeiten“ kannte, so doch wenigstens seinen Klang, und der saß. Er rumorte, spaltete den individuellen Geist und den Volksgeist und führte ohne Ausnahme zu einem inneren Kampf des Selbstbewusstseins. Wenn das Volk, d.h. wir auf der Straße miteinander redeten, war das Bewusstsein unserer Einheit immer noch vorhanden. Aber nur an sich, denn allein durch die harten äußeren Lebensbedingen und das Staccato der Einflüsterungen der Neudeutschen, wir seien nicht ein Volk, sondern Bevölkerung, aufs Tiefste verwirrt.
Der Volksgeist begegnete mir konkret. Er gab sich Gehalt und Inhalt. Was das Volk empfand, fühlte, dachte, urteilte und tat, welche Werte und Prinzipien galten, wie es sich selbst betrachtete, das Wissen von sich selbst (Selbstbewusstsein auf der Stufe des Bewusstseins) erfasste ich in seinen Momenten, d.h. im Einzelnen auf der Straße: In Friedenau, in Westberlin und Ostberlin, in der Nachbarschaft, auf dem Markt, in der Schlange, auf dem Schwarzen Markt, beim Hamstern, unter Gleichaltrigen, unter Frauen und Männern, Jungen und Alten, Schiebern, Wendehälsen, Stehaufmännchen, Nestbeschmutzern, Kommunisten, ehemaligen Soldaten, Heimkehrern, hängen gebliebenen Fremdarbeitern, Ausgebombten, Vertriebenen, Enteigneten, Witwen, Erniedrigten und unter sonst wie Gebeutelten. Ich traf das Heer der Mitläufer und Verführten und hochrangige ehemalige Mitglieder der nationalsozialistischen Partei sowie Angehörige der SS.
Auf der Straße lauschte ich immer mit offenen Ohren. Dem Zeitgeist entzog ich mich nicht. Ich setzte mich ihm nicht nur willig, sonst aber passiv aus, sondern saugte ihn aktiv wie ein Durstender ein. Ich schaute dem Volk aufs Maul und sorgte so für meine Bildung.
Täglich lernte ich, bezog mich wahrnehmend und denkend auf das Erleben des Volkes, auf sein Sein, auf seine Geschichte. Ohne dass ich es merkte, wurde mein persönliches Schicksal zu einem Moment des Schicksals des Volkes. In allem, was die Menschen taten, erzählten, was sie lobten oder verurteilten, begegnete ich mir selbst. Immer schien es mir, war von meinem Tun, meinem Erleiden die Rede.
Ich war auf Seiten des Volkes, ja, ich war das Volk. Wie das Volk erniedrigte auch mich der verordnete Zeitgeist. Aber er ließ mich auch rebellieren und (rückblickend) innerlich emigrieren. Was meine Familie mir vor dem Kriegsende als gut, großartig, richtig, sinnvoll und erstrebenwert beigebracht hatte, womit ich identisch war, galt jetzt als schlecht, minderwertig, falsch, sinnlos und verachtenswert. „So soll es nicht sein“, sprach ich zu mir. „Ich weiß mich nicht als böse. Das kann ich nicht, das will ich nicht." Auch das Volk sprach so und unterstützte mich.
Ich erfasste mich bewusst als Bürger eines nicht existenten Staates, als Angehöriger eines Volkes, einer Zeit – einer aus dem Volk der Deutschen, der Nazi-Deutschen!
Während des Krieges war ich ein Deutscher geworden. Ich war es gerne gewesen. Nach dem Krieg war ich immer noch einer, aber mein Selbstbewusstsein wurde auf eine harte Probe gestellt. Wie das Volk auf der Straße sagte ich mir: „Ich bin ein Deutscher“, um im gleichen Atemzug mir mit einer zweiten Stimme zu erklären: „Einer der armen Deutschen, dieser armen Schweine! Ein Verbrecher, ein Arschloch!" Worauf ich – manchmal war mir danach – sogleich mit einer dritten Stimme hinzufügte: „Scheiße, dass ich ein Deutscher bin!" Die Einbildung in den Volksgeist war die Einbildung in einen gespaltenen Geist. Das Volk war verrückt, ich war verrückt, eine „multiple Persönlichkeit". – Es war mir damals nicht gegönnt, mich als neudeutscher Geist, wenn auch nur zum Schein, aus der Bredouille zu retten.
Nie mehr haben deutsche Bürger miteinander so viel und so eingehend, geradezu vertraut, über sich und Deutschland geredet wie in den vierziger Jahren. Jede Gelegenheit wurde genutzt. Der Mund ging über, bei dem, was die Herzen bewegte. Menschen begegneten sich wie eh und je, irgendein partikuläres Interesse führte sie zufällig zusammen. Sie schütteten sich gegenseitig ihr Herz aus. Ihre „subjektiven" Wahrheiten sagten sie sich von Angesicht zu Angesicht, braun gegen rot oder schwarz und wie mir schien, sich selbst und dem Gesprächspartner gegenüber rücksichtslos ehrlich. Bekannten, auch Freunden wurde dieser Vorzug selten zuteil. Ihnen gegenüber hätten sie sich wohl zu sehr geschämt, geängstigt und entwürdigt gefühlt.
Oft genug grauste es mich. Was hatte das Volk getan, was war ihm alles angetan worden und wurde ihm angetan und was hatte der einzelne, in dessen Gesicht ich verständnisvoll blickte, Furchtbares getan, was war ihm Schreckliches geschehen.
Die Menschen redeten miteinander, als wären sie ein Leben lang aufs Engste vertraut. Doch bei aller Intimität spürte ich immer eine unsichtbare Distanz. Nie fragte jemand uns, d.h. meist meine Mutter und mich, nach unserem Namen, nie fragten wir nach dem Namen unseres Gesprächspartners. Wir blieben anonym. Die Anonymität schützte uns. Und nach jedem Gespräch gingen wir auseinander, jeder in sein Heim, ohne das Bedürfnis nach weiterer Bekanntschaft. Folgenlos? Mitnichten. Jeder hatte seine Last abgeladen und jeder trug die Last des anderen jetzt mit sich.
Die Gespräche waren aufrichtig, distanziert, anonym und außerdem wie von unsichtbarer Hand zensiert. Es wurde hinter vorgehaltener Hand geredet. Nie gab sich jemand als unbeirrter Träger nationalsozialistischer Ideen zu erkennen, nie hörte ich jemals ein reines Loblied auf das Dritte Reich. Gesprochen wurde immer aus einer Verteidigungsposition heraus und im Bewusstsein, unter einer unendlichen Ungerechtigkeit leiden zu müssen. „Es war nicht alles schlecht, was der Führer getan hat." – „Er hat uns nicht nur wieder leben lassen, sondern uns auch unsere Ehre und Würde wiedergegeben." – „Als ich Hitler das erste Mal traf, habe ich vor Freude geweint. Wer hat damals denn wissen können, wie das alles endet." – „Das mit den Juden hätte Hitler nicht tun sollen, aber sonst ..." – „Ich war nie PG, ich habe Göbbels und Konsorten nie leiden mögen, aber was die jetzt alles getan haben sollen, ist glatte Lüge." – „Die sind kein bisschen besser als Goebbels." – „Jetzt schiebt man uns sogar alle Verbrechen, die die Sieger begangen haben, in die Schuhe und wir haben die Schnauze zu halten." – „Es ist so ungerecht, dass wir nicht sagen dürfen, was man mit uns macht." – „Erst hat man uns totgeschlagen, jetzt will man unsere Seele töten." – „Das letzte Hemd haben sie mir unter dem Hintern weggerissen und jetzt soll ich dafür noch dankbar sein." – „Ich habe für das Vaterland mein Leben eingesetzt. Jetzt bespuckt man mich und meine Kinder hetzt man auf, mich Verbrecher zu nennen."
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