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Im sittlichen Chaos lebend wollte ich dennoch immer das Richtige, Wahre und Gute tun. Einerseits von meiner (objektiven) Haltlosigkeit überzeugt, drängte mich andererseits meine Angst davor unentwegt weiter, Halt und Sicherheit nachzujagen. Nach kenntnisreichen, kompetenten Autoritäten, die mir helfen konnten, die wussten, was das Richtige, Wahre und Gute war und wo es lang geht, brauchte ich nie zu suchen. Es gab sie überall. Sie drängten sich mir förmlich auf. Sie lockten, schwatzten mich betrunken, drohten. Das ganze Volk ein Kollektiv von Wissenden und befehlenden Autoritäten. Bei so viel Hilfe und Unterstützung hätte ich jubeln sollen. Dennoch wurden die Autoritäten zu einem mehr als lästigen Problem, das ich nie befriedigend lösen konnte. Hatte ich gerade einen Menschen, zum Beispiel meinen Bruder, einen Lehrer oder einen Politiker als Halt und Autorität für mich anerkannt, erwies sich mein Vertrauen in ihn ratzfatz als getäuscht, wobei es keineswegs immer an der betreffenden Person lag. Andere Autoritätspersonen traten auf, die diesen widersprachen, und wenn sie die Macht hatten, hemmungslos ihre Autorität durchsetzten, bis auch sie von anderen Autoritäten verdrängt wurden. Wer die Macht hatte, seine Autorität über die anderen zu stellen, verfügte, solange er die Macht hatte, über die Wahrheit.
Erfahrungsgemäß versprachen mir Autoritäten, deren Weisungen ich gehorchte, Schutz und Sicherheit. Etwa: „Wenn du glaubst und tust, was ich dir sage, kannst du sicher sein, auf der richtigen Seite zu stehen." Diese Zusicherung im Ohr taugte selten etwas, aber als Entschuldigungsgrund erwiesen sich die Autoritäten im Allgemeinen ganz brauchbar. „Ich habe gehorcht (nicht gehorcht), weil dieser oder jener es angeordnet hat."
Wäre da nicht immer wieder meine Mutter aufgetreten, die den Ansprüchen der Autoritäten, auf die ich mich berief, einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte, ich glaube, meine antiautoritäre Grundhaltung und mein gehorsamer Ungehorsam wären eingeschlafen. Sie fuhr mich mit ihren Sprüchen an und übertönte damit alle Autoritäten: „Dort wo wir herkommen, beugen wir uns vor keinem König, keinem Kaiser, keinem Führer, keinem Zentralkomitee, keinem Politiker, keinem Besatzer, keinem Lehrer, das heißt vor keiner Macht der Erde, es sei denn, ihre Befehle oder Anordnungen oder ihre Wahrheiten sind auch die Wahrheit und stimmen mit den Grundsätzen aller von Recht und Ordnung überein.“
„Gut, gut, gut!" Ich wurde in noch größere Wirrnis gestürzt. „Unsere Wahrheit ist im Osten Lüge, die Wahrheit des Ostens bei uns Irreführung. Was ist dann die wahre Wahrheit? Was meint meine Mutter mit der Wahrheit? Beides? Die Mitte? Nichts von beidem? Und – was sind die Grundsätze aller?" – Diese Fragen wollte ich geklärt haben. Aber es vergingen noch Jahre, bis ich die vielen diesbezüglichen Belehrungen meiner Mutter zu begreifen begann.
Als nämlich die vielen Autoritätspersonen durch die Zersetzungsarbeit meiner Mutter bei mir ihre Autorität verloren, erhoben sich sofort und immer wieder neue gewaltige Autoritäten, mit denen anzulegen ich bereit sein musste, mir die Finger zu verbrennen. Die Auseinandersetzung mit ihnen verlangte meine volle ungeteilte Aufmerksamkeit. Es waren keine Personen direkt, sondern unpersönliche Institutionen, anonyme Mächte, die hinter den Personen standen. Zu ihnen gehörten die Zeitung, der Rundfunk, die Kirche, die Regierung mit ihren vielfältigen Organen. Sie beanspruchten bedingungslose Autorität und Gehorsam im Namen einer größeren Sache, eines ewigen Wertes, als deren gehorsame Diener sie sich betrachteten, wie: Wahrheit, Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit, Demokratie, Sozialismus, das Wohl aller. Da aber in Berlin die Berufung auf diese größeren Sachen, die fundamentalen Zivilisationswerte oder Super-Autoritäten kaum einen dazu brachte zu parieren (der Westen lachte über die Werte des Ostens, der Osten über die des Westens), so blieb, von der Gewalt abgesehen, mit der Gehorsam erzwungen wurde, den anonymen Institutionen, um ihr Recht auf Gehorsam zu legitimieren, nur die Berufung auf eine ultimative Autorität, die im Osten und im Westen wie auch von allen Bürgern anerkannt wurde. Das nun war die Wissenschaft. Sie hatte die Schlüsselgewalt über die Wahrheit. Sie war die absolute, unumstößliche Autorität. Mir schien sie wie ein oberster Gott zu sein, gegen den Gott, den ich kannte, zu einem Popanz herabgesetzt wurde. Die Wissenschaft gab den ultimativen Halt!
Die Wissenschaft hat festgestellt, war der bedeutendste, aber für mich auch zugleich fragwürdigste Satz, den ich als Zwölfjähriger aus dem Effeff beherrschte.
Zeitweilig war es eine Masche von mir, mich für eine Unart oder üble Handlung unter Berufung auf in der Zeitung angeführte wissenschaftliche Feststellungen bzw. Aussagen und Ergebnisse vehement zu verteidigen. Wenn ich aber mit der Bemerkung anhob, aber die Wissenschaft hat festgestellt, war es mit der guten Laune meiner Mutter vorbei. Sie kam in Rage und nicht selten rastete sie förmlich aus. Aber ich ließ nie nach und forderte sie bei jeder mir passenden Gelegenheit erneut heraus und benutzte selbst von mir erfundene wissenschaftliche Erkenntnisse als Munition. Ich wusste, dass meine Mutter Probleme hatte, sich mit der Autorität der Wissenschaft anzulegen. Nichtsdestoweniger nahm sie meine Herausforderungen immer an. Ich zwang sie ständig über etwas, wovon sie meiner Meinung nach keine Ahnung hatte, nachzudenken.
Ihre ersten wissenschaftskritischen Sprüche waren in meinen Augen schwach. „Die Wissenschaft (manchmal hieß es auch die Zeitung) hat nur so viel Macht über dich, wie du ihr gibst“, war einer der ersten Sätze aus ihrer Gebetsmühle. Ein zweiter, meist auf die Zeitung bezogener Spruch, der häufig variiert wurde, folgte manchmal: „Nicht wir haben den Zeitungen und der Wissenschaft zu gehorchen, sondern sie uns. Es sind nämlich unsere Zeitungen und unsere Wissenschaft."
Derart abstrakt allgemeine Sprüche halfen mir in konkreten Einzelsituationen zwar nicht weiter, aber sie bestärkten meine grundlegende Haltung zu Autoritäten, welcher Art auch immer, innerlich auf Distanz zu gehen. Hilfreicher waren dann oft witzige, manchmal auch drastische Redewendungen oder klare und verständliche Beispiele, die in einem Streit um das Gehorchen von meiner Mutter in die Debatte geworfen wurden.
In Westberlin wurde der Kommunismus als Irrlehre, die wissenschaftlich unhaltbar sei, „bewiesen". Deshalb musste die weltweite Ausbreitung des Kommunismus mit allen Mitteln gestoppt werden. Obwohl keiner den Einsatz von Atombomben wolle, sei ein Atomkrieg als letztes Mittel nicht auszuschließen. Als Ultima Ratio sei er wohl unumgänglich, wenn nicht sogar notwendig. – Mit diesen und ähnlichen Worten wurde uns der Einsatz von Atomwaffen in Korea schmackhaft gemacht.
In Korea stand die Sache für den Westen keineswegs gut. „Die Zeitung hat Recht", erklärte ich meiner Mutter, „die Amis sollten Atombomben werfen.“ – „Was!" stieß meine Mutter hervor, „du hast sie wohl nicht mehr alle. Wenn jemand dir sagt, spring aus dem Fenster, springst du. Du bekommst das fertig. Wenn die Zeitung unter Berufung auf die Wissenschaften dir erklärt, du darfst nicht rechts, links oder geradeaus denken, weil es faschistisch, kommunistisch, rassen- oder klassenfeindlich ist oder sonst irgendetwas, dann denkst du natürlich so, wie die Zeitung es will, weil es die Wahrheit sein soll. Brav machst du alles nach. Du würdest sogar aufhören zu denken, wenn die Zeitung und die Wissenschaft behaupten, es sei für die Deutschen vorteilhaft. Du lässt dir jederzeit aus einem X ein U machen.
Mein lieber Freund, seit 30 Jahren lese ich regelmäßig Zeitung und während dieser Zeit habe ich kein Journal kennengelernt, das sich nicht auf die Wissenschaft berufen hat. Aber die wissenschaftlichen Feststellungen, die uns während der Weimarer Republik als Wahrheiten vermittelt wurden, erwiesen sich bei Hitler als Lüge und die Wahrheiten der Hitlerzeit sind heute wissenschaftlich erwiesen unwissenschaftlich und frei erfunden. Aus meinen Erfahrungen kann ich nur folgern, dass die Wahrheiten, die die Zeitungen uns heute verkaufen, die Lügen von morgen sind.
Die Wahrheit hat immer eine Kehrseite! Schreib dir diesen Satz hinter die Ohren! – Wenn z.B. im Neuen Deutschland ein Loblied auf Väterchen Stalin gesungen wird und du darin kein Sterbenswörtchen eines Mangels, eines Fehlers, eines Tadels findest, so als wäre die Kehrseite der Medaille gar nicht vorhanden, kannst du sicher sein, dass du belogen wirst. Andererseits wenn du in unserer Zeitung in einem Artikel über den großen Verbrecher Adolf Hitler nichts Vorteilhaftes, Verdienstvolles, Gutes findest, kannst du auch diesem Bericht nicht glauben. Egal, was es auch sei, liest du in der Zeitung, vielleicht gar unter Berufung auf die Wissenschaft, irgendetwas, das nur gut, nur nützlich, nur schädlich, nur böse ist, kannst du davon ausgehen, um die Wahrheit betrogen zu werden."
Wenn ich nach derartigen Ausführungen immer noch fragte: „Was ist denn nun die Wahrheit wirklich?“ erntete ich meist einen konsternierten Blick. Manchmal aber war sie gnädig, dann schmunzelte sie oder lachte laut. „Das habe ich dir doch gerade erzählt. – Willst du die wirkliche Wahrheit wissen, musst Du nur die Medaille um- und umwenden. Wenn eine Zeitung uns nur die eine Seite der Wahrheit als ganze Wahrheit feststellt, hätte sie gut daran getan, die Druckerschwärze zu sparen."
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